Unfähigkeit

Ich möchte einfach mal die Gelegenheit nutzen, frustige Gedanken zu sortieren und damit vielleicht etwas von dem Frust loszuwerden.

Ich habe es mehrmals angedeutet bezüglich Reaktionen auf die Corona-Pandemie und die Klimakrise: das wirklich beängstigende ist nicht einmal das Problem, sondern die völlig inadäquaten Reaktionen darauf, die das Problem verschlimmern bzw. neue Probleme schaffen. Herausforderungen sind ja keine Katastrophe, wenn man sie gemeinsam angeht. Aber wenn sie offenlegen, dass die Mitmenschen eine Bedrohung für dich, sich selbst und andere sind, dass diese Menschen mit all ihren toxischen Verhaltensweisen bleiben werden – und der Schaden, den sie angerichtet haben – selbst wenn das Problem gelöst wäre… Das erschreckt mich. Und dieses Gefühl verstärkt sich durch immer neue (zugegeben oft medial vermittelte, also evtl. skandalisierend-verzerrte) Beobachtungen. Jetzt natürlich weniger Corona und mehr über den Umgang mit Putins Russland, die Krise der liberalen Demokratien, die Systemkonkurrenz mit China, die konkreten Auswirkungen in Form der (gefühlten) Energiekrise usw.

Steter Tropfen höhlt den Stein. Ich gebe die Menschheit auf. Unrettbar. Und unwürdig gerettet zu werden.

Also einerseits waren wir schon so weit, dass es einen Diskurs über Postwachstum und die schnelle Abkehr von fossilen Energien gab. Und jetzt ist die einzige Frage, die Politiker*innen und Journalist*innen einfällt „wo sollen wir unser Gas herbekommen?“ und „es droht eine Rezession“. Droht? Ernsthaft? Rezession heißt nur, dass das ohnehin fragwürdige Maß für Wirtschaftswachstum, das BIP, unter Null sinkt. Das ist nicht schlimm, sondern notwendig! Zugegebenermaßen ist das noch implementierte Wirtschaftssystem auf Wachstum ausgerichtet und es wird rumpeln und Verwerfungen geben, wenn das Wachstum ausbleibt. Aber dass wir genau für dieses Rumpeln Lösungen finden müssen und nicht für stetig mehr Wachstum, ist lange bekannt. Den Druck der Krise, den (mal wieder) emotionalen Ausnahmezustand zu nutzen, um wieder in einen Zustand vor dieser Erkenntnis zurück zu kommen, ist verlogen. Und wer das nicht nur aus Selbstbetrug sondern vielleicht sogar kalkuliert und strategisch macht, ist nicht nur verlogen sondern niederträchtig. Ende der Durchsage.

Aber nicht nur die Größen aus Wirtschaft, Politik und Medien frustrieren mich, sondern auch das einfache Volk. Noch immer gibt es die kindische Gewohnheit gegen ein Problem zu demonstrieren. Eine sinnvolle Demonstration aber richtet sich auf das Verhalten anderer Menschen. Ich kann Alternativen vorleben oder eine Lösung, die mir gut erscheint, einfordern. Ich kann eine andere Lösung als schlecht kritisieren. Oder ich kann „gegen den Krieg“ oder „gegen steigende Preise“ demonstrieren. *facepalm*

Natürlich erfüllt das einen Zweck: wenn ich selbst nicht die Verantwortung für einen Vorschlag übernehme, sind nur die anderen (in der Regel „die da oben“) verantwortlich (in der Regel „schuld“). Ich brauch also weder wissen, wie es geht, noch selber dazu beitragen, noch akzeptieren, dass eine Lösung zu einem gewissen Preis kommt – ich verlange einfach, dass das Problem verschwindet. So einfach kann es sein.

Oder die simple Information, dass etwa 80% der Waldbrände von Menschen verursacht sind – fahrlässig oder gar absichtlich. Wenn wir uns einer apokalyptischen Klimakrise gegenüber sehen, mit Dürre in halb Europa usw. Und die Menschen nicht erst daran scheitern, auf nachhaltige Energieerzeugung und Landwirtschaft umzusteigen, sondern schon daran, nicht selbst die letzten Wälder abzufackeln (und das teilweise gar aus boshafter Absicht) – wieviel Hoffnung macht das dann für die Bewältigung des eigentlichen Problems?

Ich habe diesen Beitrag gehört: https://www.deutschlandfunkkultur.de/hartmut-rosa-mangel-uberfluss-100.html und möchte die Idee aufgreifen, dass Krisen offenbar das Potenzial haben, konservativ zu machen. Unter dem Druck eine Lösung finden zu müssen, greift der Mensch auf Routinen zurück. Extremsituationen erfordern den Überlebensmodus: also konzentriere ich mich auf mich selbst und wähle aus bekannten Optionen. Kreatives Überlegen und andere um Rat fragen und Bedürfnisse anderer empathisch wahrnehmen hat in diesem Modus keinen Platz. – Und das steht im Widerspruch zu dem sonst so gern verwendeten Bild von „Krise als Chance“. Der angenehm konstruktive und gebildete Dialog in diesem Beitrag möchte sich aber nicht davon abwenden und ergeht sich dann im theoretisch möglichen. Angenehm, ein schöner Besuch im Elfenbeinturm. Aber leider sehe ich in der realen Welt gerade die Überprüfung der Hypothese: ja, theoretisch sind beide Ausgänge plausibel beschreibbar, entweder macht Not erfinderisch und in Krisen steckt großes Potenzial zur Weiterentwicklung und „sich neu erfinden“ – oder sie lähmt eben die Kreativität und führt zu einem Hauen und Stechen im (gefühlten) Verteilungskampf. Was ich beobachte tendiert leider ganz klar zu letzterem. Damit ist der Bogen zum Anfang geschlagen.

Hier steh ich nun ich armer Tor und bin so ratlos wie zuvor: ich weiß auch (ja, ist mir bewusst, ich weiß nicht, ich glaube zu wissen…) wie man theoretisch alles besser machen könnte. Aber ebenso, wie die Klimaforschenden und andere, die die Welt gern besser machen würden, scheitere ich an den Mitmenschen, deren Verhalten und zugrundeliegende Denkmuster jeden Erfolg fruchtbarer / prosozialer /umweltverträglicher Veränderung im Keim ersticken. Stattdessen stehen die Zeichen auf nächstem Kalten Krieg und Besitzstandswahrung. Krise macht konservativ bis zur Selbstvernichtung. Die spinnen die Römer.

immer wieder Russland

Nun sage ich doch nochmal was zum Thema Russland. Vieles ließe sich übertragen, aber bleiben wir mal am Beispiel Ukraine-Konflikt. Eben weil die Nachrichten voll davon sind und es mir quasi als Wand ins Gesicht schlägt, dass hier schlichte Meinung postuliert oder gar Stimmung gemacht wird. So offensichtlich, wie es einem informierten Beobachter nur sein kann, wird einseitig dargestellt und tun sich Parallelen auf, zu Dingen, deren Wiederholung ich nicht zugeschaut haben will, als hätte ich nix gewusst.

Was meine ich konkret? Ich habe den Eindruck, dass hier Rhetorik verwendet wird, wie sie häufig vor einem Krieg zum Einsatz kommt. Die Zeitungen titeln „USA warnt Russland“ oder „Russland droht mit…“ und im darunter stehenden Text, der stark eingedampft einen Konflikt nachzeichnen soll, wird die Aneinanderreihung von Aussagen in keiner Weise der verzwickten Realität gerecht. Und wenn bereits der öffentliche Diskurs in Form der Medien-Echokammer derart eingeschränkt ist, dass als logische Konsequenz (scheinbar!) nur noch der offene Konflikt bleibt – mit militärischen oder mindestens abschottenden, sich gegenseitig schadenden Mitteln (dazu zähle ich auch Propaganda und Wirtschaftssanktionen) – dann ahne ich nix gutes.

Was mich daran besonders ärgert – die geneigte Leserin kennt es bereits von anderen Beiträgen hier – ist, dass wir für dumm verkauft werden. Die Adressaten der Medienbeiträge und die Wähler*innen, welche zum Zuschauen degradiert sind, weil es gar keinen demokratischen Streit um unterschiedliche Möglichkeiten gibt, werden so gut es geht rausgehalten und mit Unfug abgespeist.

So auch wenn pseudo-aufklärend getitel wird „was will Putin in der Ukraine?“ dann stellt sich mir die Frage: Wieso kommt kein*e Journalist*in auf die Frage „was will die EU in der Ukraine?“ – die Antworten dürften in beiden Fällen (!) sowohl legitime Ansichten als auch eher fragwürdige Eigeninteressen zutage fördern. Und dass wir diesen Schlagzeilen dominierenden Konflikt jetzt nicht hätten, wenn es keine Eigeninteressen (über Prinzipien des Völkerrechts hinaus) gäbe, dürfte ja selbst naiven Gemütern dämmern. Wo verteidigt die EU denn ähnlich vehement das Völkerrecht – in all diesen vielen himmelschreienden Fällen – wenn es da nix zu holen gibt?

mehr Beispiele

Der historische Blick auf die Ukraine wird auf eine Formel verkürzt: Ehemalige Sowjet-Republik (also gegen ihren Willen von Russland = Sowjetunion geschluckt – anders kann es bei keiner Sowjet-Republik gewesen sein), dann unabhängig geworden (also eine ganz normale souveräne Nation) und jetzt soll ihnen dieser Status erneut streitig gemacht werden – pfui!
Das Problem ist: das stimmt schlichtweg nicht. Die Ukraine war seit Bestehen ein Konglomerat, geprägt durch Wanderungsbewegung, Grenzverschiebung und Einflussnahme durch benachbarte Reiche. Die Kiewer Rus, die ihren Beginn markiert, ist gleichzeitig Gründungsmythos des russischen Zarenreichs (und dieser wird heute in Russland wieder verstärkt gepflegt). Die Krim war immer multiethnisch. Die Verhältnisse im Rest der heutigen Ukraine nie lange stabil und es zeigt sich, wie in so vielen anderen Regionen und Epochen, dass der Gedanke des Nationalstaats verheerend sein kann. Denn da wo sein Ideal einer Einheit aus Volk, Kultur und Staatsgebiet nicht gegeben ist, versuchen Nationalisten sie herzustellen. Wenn aber eine Volksgruppe nicht nur auf dem politischen Territorium der Nation lebt, sondern auch in benachbarten Gebieten, die eine andere Gruppe kontrolliert? Wenn eine andere Volksgruppe innerhalb des Staatsgebietes, das man selber kontrolliert, lebt? Wenn die Kultur gar nicht abgrenzbar ist? Wenn die politische Macht sich nicht zentralisieren lässt, weil es Geografie oder tradierter Herrschaftsanspruch durch Erbmonarchie nicht zulassen? Genau: Bürgerkrieg, Rassismus, Terror usw. Dieses Muster lässt sich überall erkennen, wird aber häufig nicht auf ihre gemeinsame Ursache zurückgeführt: die verhängnisvolle Idee vom Nationalstaat.

In der Ukraine ist bzw. war all das gegeben. Nachzulesen bspw. hier: https://www.bpb.de/izpb/209719/geschichte-der-ukraine-im-ueberblick

das schlechte Vorbild

Was weiterhin zeigt, dass wir entweder schlechten Journalismus oder irgendeine Form von Propaganda (vielleicht auch einfach aus unreflektierter Parteilichkeit) haben:
Russland werden Handlungsweisen vorgeworfen, die es eins-zu-eins vom Westen abgeschaut hat. Kürzlich gelesen „London wirft Russland politische Einflussnahme vor“ – das würden EU und USA natürlich nie machen! In einem anderen Land versuchen, Einfluss auszuüben, Bündnisse schmieden, Wirtschaftsbeziehungen eingehen (die ja nicht immer einfach nur offener Marktplatz heißen)… Grotesk, das als Vorwurf zu formulieren, oder?!
Oder mit Militär einrücken um „eigene Staatsbürger zu schützen“ – Gott bewahre, dass Russland in der Ukraine auf so eine Argumentation zurückgreift – da fällt dem Pentagon-Mitarbeiter ja vor Schreck der Panamahut vom Kopf… Achso… Beispiel Panama und US-Marines… Äh ja…
Oder dass Putin ausgerechnet dort Gebiete kontrollieren will, wo Bodenschätze liegen und sogar mit Militär droht, um seinen Zugriff zu sichern. Also sowas würden westliche Staaten natürlich niie machen!
Oder False Flag Operations in einer Revolutionssituation, wie damals auf dem Maidan 2014. Die USA haben ja noch nie „in ihrem Hinterhof“ eingegriffen, um mit geheimdienstlichen Aktionen politische Verhältnisse zu ändern. Wenn jetzt Putin beansprucht, die Ukraine (siehe gemeinsame Geschichte oben) als seinen Hinterhof zu behandeln und möglicherweise sogar verdeckte Operationen da durchführt… Also sowas geht natürlich gar nicht!
Und überhaupt diese Missachtung des Völkerrechts, z.B. als Feinde eingestufte Menschen in anderen Ländern, wohin diese sich extra geflüchtet haben, anzugreifen – das geht nun wirklich gar nicht! Wenn Putin Doppelagenten in London vergiften und Terroristen in Berlin erschießen lässt – ein Unding! Wenn die USA Leute, die sie als Islamisten verdächtigen, verschleppen und außerhalb ihres Staatsgebiets in Folterkeller sperren – das kann man ja verstehen. Oder Snowden oder Assange oder so…
Und die russische Wagner-Gruppe, also wenn ein Staat mit Söldnern operiert, damit es für „Fehlverhalten“ nicht haftbar ist oder den Einsatz in bestimmten Gebieten oder zu bestimmten Zwecken einfach abstreiten kann, was am Ende die Genfer Konventionen aushöhlt – was für eine Unsitte! Blöd nur, dass es die USA mit Blackwater im Irak ab 2003 vorgemacht haben. Hat noch jemand ein paar schöne Beispiele? Da schreibe ich mich glatt in Rage.

Was mich zum nächsten Beispiel der Bigotterie bringt, dem ich aber einen gewissen Dreh abgewinnen kann: wenn Deutschland jetzt (wie ich finde zurecht) syrische Folterknechte und Diktaturhelfer vor Gericht stellt, findet das im wesentlichen ein positives Medienecho. Und es wird vom Weltrechtsprinzip geschrieben – dass also Taten, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden, von jedem Land, wo sich die Täter oder Opfer befinden, verfolgt und zur Anklage gebracht werden können. Super Sache das! Dann können wir ja jetzt die ganzen CIA-Agenten (oder welchem Akronym auch immer sie zugerechnet wurden) anklagen, die z.B. damals Murat Kurnaz entführt haben.

Klarstellung

Ich möchte hier nicht als Putin-Freund auftreten, bin ich nicht. Ich wünsche mir einfach eine aufgeklärte und differenzierte Öffentlichkeit. Zumindest da, wo demokratische Öffentlichkeit geschätzt wird, sollte sie auch Praxis sein. Wenn der Westen – zurecht! – Russland und China vorwirft, demokratische Öffentlichkeit als Störenfried zu betrachten und zu verhindern (präventiv wie repressiv), dann ergibt sich daraus auch die Verantwortung, selber ein besseres Vorbild zu sein. Und ich habe klar den Eindruck, dass dies bezüglich des Ukraine-Konflikts (aber auch anderer Beispiele) stark vernachlässigt wird.

Gedanken zur Geopolitik

Dieses Feld ist für mich persönlich ziemlich spannungsgeladen, da ich eigentlich mit dem Pazifismus sympathisiere. Dennoch denke ich manchmal als Realist. Und aktuell beobachte ich leider eine Dynamik auf diesem Planeten, die nicht viel Raum für Träume von Harmonie und allseitigem Wohlwollen lässt. Das wäre:
China (Beziehung aus Geschichte, Kultur und aktueller Lage)
Deutschland (Bundeswehr, Außenpolitik)
Europa (politische Lage in EU und geopolitische Situation)
NATO (Kritik Soll- & Ist-Zustand, Bezug Geschichte)
Russland, USA usw. (kurzer Kommentar, Länder tauchen verteilt im Text auf)
Auflösung der Widersprüche (Grundzüge einer gewünschten Richtung)

China.
Fakten: Unter Xi Jinping wird China zunehmend auf Nationalismus getrimmt. Es gab kürzlich erhellende Dokus (Arte) über seinen Weg zur Macht und seine Marschroute im Inneren der KP. Daraus geht klar hervor, dass er entschlossen ist, diesen Weg zu Ende zu gehen. Also Personenkult, mehr Zensur, mehr Propaganda, Ausnutzung digitaler Möglichkeiten, mehr Anstacheln nationalistischer Akteure im Inneren, Zügel in allen Bereichen wieder anziehen (die KP entscheidet über große Unternehmen in China, wer in Ungnade fällt, wird gestürzt und mundtot gemacht, soziale Medien überwachen wer aus der Reihe tanzt etc.), Ausbau militärischer Mittel über das konventionelle Heer hinaus, eigenes Raumfahrtprogramm statt Kooperation usw. usw.
Einordnung: Die Chinesen haben aus der Geschichte gelernt. Sie bleiben aber ihren alten Werten aus den Kaiserreichen treu. Für vieles, was das antike/mittelalterliche China ausgemacht hat, habe ich großen Respekt. Leider ist die Kombination für die neue Ära dennoch kein gutes Zeichen. In China galt nämlich immer Stabilität und Wohlergehen im Inneren als Top-Priorität. Dabei setzten die Kaiser oder gleich deren Beamte (die Zeitweise mehr Kontrolle als einzelne Kaiser hatten) auf Wissen statt auf (religiöse) Ideologie und offen ausgetragene Konkurrenz – wie es zur gleichen Zeit im Westen der Fall war. So erklärt sich, dass China der Welt technologisch weit voraus war und trotzdem nicht das Bedürfnis hatte, andere einzunehmen und zu bekehren. Allerdings bedingte diese Priorisierung auch, dass eben wirklich jedes Mittel recht war, um Unruhe im Inneren zu unterbinden und langfristige Planbarkeit zu sichern – die den Wohlstand herstellen sollte. In China scheint immer noch ein Konsens zu herrschen, dass dies der beste Weg ist (sozusagen nicht der Königsweg, sondern der Kaiserweg), um den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Zahl zu erreichen. (Das klingt auch schön in den streitenden Positionen bei „Die drei Sonnen“ von Liu Cixin an.) Insofern ist das Kopfschütteln gegenüber der westlichen Forderung nach freier Meinungsäußerung, Demokratie usw. verständlich. Wenn Stabilität im Reich der Mitte ebenfalls aus dessen Mitte und vom Sohn des Himmels kommt (eine zentrale Ordnungsmacht steckt quasi in den politisch-kulturellen Genen Chinas und ist in so viel Symbolik verschachtelt) und wenn die historische Erfahrung zeigt, dass es entweder dieses starke Zentrum gibt oder Chaos und Niedergang (und dies ist in der Tat eine historische Erfahrung in China), dann ist auch klar, dass Mitsprache aller wie eine gefährliche Dummheit wirkt. Noch dazu bei einem Volk aus zwei Milliarden und mit ursprünglich zig verschiedenen Sprachen. Ergänzt wird das mit Konfuzianismus, der im Wesentlichen Hierarchie und Autorität rechtfertigt und es zur Tugend erklärt, dass alle sich anstrengen, die gemeinsamen Ziele (ausgegeben von oberster Stelle) zu erreichen. Konfuzius hat zwar auch Forderungen an Mäßigung und Weisheit der Führenden gestellt, aber es hat sich nie eine Instanz oder ein Modus entwickelt, die Einhaltung zu beobachten. Das fatale ist nun, dass China vom Westen gelernt hat und in Anwendung des Gelernten – aber verbunden mit seinen verwurzelten Werten – ein totalitäres Monstrum ohne innere Kontrollinstanz wird.
Was hat China vom Westen gelernt? Dass man nicht mehr bestehen kann, wenn man sich auf sein eigenes Territorium beschränkt. Dass es sehr hilfreich ist, andere von sich abhängig zu machen und falsche Versprechungen zu machen, die man im richtigen Moment brechen kann. Und dass der Westen unter dem Vorwand von Freihandel, Demokratie und sogar den Menschenrechten keinerlei Skrupel hat, Kanonenboot-Diplomatie, Propaganda oder schlimmeres zu betreiben. Wer sich die Geschichte der Opiumkriege oder des Antikenschmuggels nochmal zu Gemüte führt, bekommt einen Eindruck davon, wie verlogen und rücksichtslos der Westen auf China wirken muss. Dass Chinas Ausweg aus dieser Epoche ausgerechnet Maos Art von Kommunismus war, macht es nicht einfacher, vermittelnde Zwischentöne zu finden.
Verbindet man diese Erfahrungen nun mit dem vorausschauenden Pragmatismus, der in China immer ein höherer Wert war, als ideologische oder philosophisch begründete Werte – von Maos Wahn mal abgesehen – dann ergibt sich eben als logische Konsequenz, dass man einen Fünfjahresplan und noch längerfristige strategische Ziele ausgibt und die Mittel zum Erreichen dieser Ziele per se angemessen sind. Pragmatismus macht auf der anderen Seite den Charme chinesischer Philosophie zu einem guten Teil aus – dass Gegensätze pragmatisch und weise verbunden werden, anstatt einen Kampf Gut gegen Böse, Richtig gegen Falsch auszurufen. Darauf komme ich noch zurück. Aktuell aber gilt weniger die Versöhnung als die Dominanz. Die Meinungen der Konkurrenten sind einzubeziehen (als strategischer Faktor), aber nicht zu berücksichtigen. Die Alternative heißt Scheitern und ist immer nah an Chaos und Auflösungserscheinungen – daher ist klar, dass auch hartes Durchgreifen gegen Abweichler zum Beispiel bei weitem das kleinere Übel sind. Und auf diplomatischem Parkett hält man sich mit Werten, auf die man andere verpflichten will, zurück. Kann aber auch nicht verstehen, dass andere sich herausnehmen, politisches Handeln mit derlei Sentimentalitäten (die vermutlich eh wieder nur Täuschungsmanöver sind) zu begründen. Ja man hat geradezu den Eindruck hinters Licht geführt zu werden, wenn ein Land seine politische Position mit derlei ideologischen Worthülsen, statt glaubwürdigen Eigeninteressen begründet. (Ist da nicht sogar was dran – vor allem, wenn man die USA kennt?)
Vergleich: Ähnlich wie die Debatte über das Fehlen der Reformation als kollektive Erfahrung für den Islam diskutiert wurde, kann man zum Vergleich der Geschichte zwischen China und Europa bzw. Nordamerika einiges sagen. So zum Beispiel, dass China die Zersplitterung Europas nie hatte und dafür eine reiche eigene Tradition an philosophischen und politischen Denkern – so dass der Bedarf „die alten Griechen“ oder katholische Dogmen zu importieren nicht bestand. Auch der europäische Ausweg aus dauerndem Krieg um Überzeugungen (oder unter Vorgabe dieser als Grund) – nämlich im Glauben ans Aushandeln einer objektiven oder zumindest geteilten Wahrheit im Sinne griechischer Philosophen – war in China nie gefragt. Um die Wirren im alten Europa zu ordnen, wurde die Teilung von Einflusssphären etabliert. In den Wirren aus Pest (hier beginnt mittelalterliche Ordnung zu bröckeln), Reformation und Glaubenskriegen sowie den Intrigen um Thronfolge und Gebietsansprüche – nicht zuletzt aber auch der neuen Machtverteilung zwischen Bürgertum und Adel – haben Europa und die jungen USA Macht eingehegt. (Spätere Ausbrüche von Totalitarismus haben diesen Weg bestätigt.) Es gab Rechte, die in Gesetzen festgeschrieben wurden: Was darf der Staat? Was darf der Staatsbürger? Was darf die Kirche? Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative usw.
Die Ausgangslage für China ist ganz anders. Hier gab es die Erfahrung von mehreren Kaiserreichen, im Wesentlichen blieb das Reich der Mitte über viele Jahrhunderte was es war. Es gab Bürgerkriege, Palastintrigen, Mongolenüberfälle und neue Dynastien begründeten neue Hauptstädte – aber Chinas Macht, Wohlstand und überlegene Zivilisation blieben über einzelne Erschütterungen hinaus bestehen. Uralte Mythen und Religionen wurden immer weiter fortgesponnen und wandelten sich ohne direkte Brüche. Die Frage war immer, ob der Kaiser einen guten Plan hatte, Beamte, die diesem Plan folgten (statt in die eigene Tasche zu wirtschaften) und ob es gelang, die Städte und Regionen vor Naturkatastrophen und Barbaren-Überfällen zu schützen. Das Reich zu splitten in Sphären, wo unterschiedliche Wächter über die Einhaltung von Regeln wachen mussten (Legislative getrennt von Exekutive, Spiritualität getrennt von Politik, Bürger getrennt vom Kaiser) musste wie purer Irrsinn erscheinen. Es war der komplette Widerspruch zur – auch in der chinesischen Mystik gesuchten – Einheit von allem (siehe oben Philosophie und Verbindung von Gegensätzen). Bis sie irgendwann den Anschluss verpassten und gierige Kolonialmächte nach China griffen. Eben jene, die sendungsbewusst von Rechtsstaat, Bürgertum und ihrer Philosophie (jetzt eher der Naturwissenschaft) sprachen. Letztlich aber vor allem gierige Barbaren waren. Dieser Perspektivwechsel ist vielleicht für westliche Beobachter einigermaßen erhellend.
Folgen: All das heißt für heute, dass es witzlos – ohne Schuldeingeständnis zur Vergangenheit und Klartext über eigene Interessen – sogar kontraproduktiv ist, auf China einzureden. Xi Jinping hat den Willen zur Macht (und die mit Nationalismus beschallte Öffentlichkeit auch – ich kann es ihnen, im Hinblick auf das skizzierte Selbstbild, nicht einmal verdenken). Und China spürt zunehmend seine Macht auf allen Gebieten – und proportional den Niedergang des Westens, den dieser weitgehend selbst verschuldet hat. Daher fürchte ich, dass die sich abzeichnende Konfrontation unausweichlich ist. Das wiederum finde ich schrecklich, ebenso wie die totale Kontrolle im Inneren des Reichs der Mitte. Hier kann man ja durchaus mit chinesischer Philosophie und Geschichte argumentieren (was vielleicht mal eine gute Idee auf diplomatischem Parkett wäre), dass eine weichere Haltung langfristig mehr Ernte bringt. Dass ein guter Herrscher einer ist, der mehr Geduld als Härte zeigt…

Deutschland.
Die Bundeswehr: Dies ist nun ein kompletter Sprung. Zu Deutschland hole ich natürlich nicht so weit aus, sondern gehe direkt in die Details. Also ich bin überzeugter Wehrdienstverweigerer und kein Freund davon, Deutschland wieder ein starkes Militär zu verpassen und Steuergeld für Rüstung auszugeben. Andererseits finde ich es trotzdem bedenklich, wenn Hubschrauber der Marine nicht über Wasser fliegen können und überhaupt kaum einsatzbereites Gerät da ist. Einige winzige Einblicke, die eine interessierte Öffentlichkeit mal bekommt, lassen einen desaströsen Zustand vermuten. Riesige Summen versickern in Rüstungsprojekten und Beratungshonoraren, aber die Ausrüstung und die Zustände werden nicht besser. Schon einige Minister*innen sind daran gescheitert oder gar Teil des Problems gewesen. Von einer Vorbereitung auf Cyberabwehr, neue Waffensysteme und Szenarien ganz zu schweigen. Vom Thema Rechtsextremismus ebenso. Da ist mein erster Impuls dann doch, eine aufgeräumte, zweckmäßige Armee zu fordern, anstatt die komplette Abschaffung derselben. Wenn ich dann als Schlussfolgerung höre „die Bundeswehr ist in schlechtem Zustand – gebt ihr endlich mehr Geld“, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Wenn ich mit einem Eimer Wasser schöpfe und irgendwie nie Wasser drin ist, wenn ich es brauche, dann suche ich doch das Loch anstatt immer wieder neu Wasser rein zu gießen.
Außenpolitik: Ich würde behaupten, deutsche Außenpolitik seit Ende des zweiten Weltkriegs hat zwei Lehren gezogen – 1. still und leise für die (Export-)Wirtschaft arbeiten und 2. an die USA binden. Manchmal steht das eine im Widerspruch zum anderen, immer dann wird hier über deutsche Außenpolitik diskutiert, aber ansonsten gibt es wenig konsensfähige Ziele. Diese Lehren aus der Geschichte sind durchaus pragmatisch, aber besonders nobel oder ambitioniert sind sie nicht.
Zwischendurch war vielleicht die deutsch-französische Freundschaft mal relevant. Die DDR bleibt hier wie immer ausgeklammert – was natürlich auch eigene Probleme schafft und Fragen aufwirft. Aber gerade auf diese beiden Aspekte beziehe ich mal den nächsten Punkt: Deutsche Führungsrolle im geeinten Europa. Sowohl bei den sowjetischen Völkerfreundschaften als auch bei der „Verbrüderung“ mit Frankreich war die Aussöhnung und das Formen einer strategisch belastbaren Einheit das Ziel. (Problematisch natürlich, dass die deutsche Teilung zwei gegnerische Lager daraus machte und die deutsche Wiedervereinigung vor allem den europäischen Osten dabei zurückließ.) Die Idee des (unter deutscher Führung) geeinten Europa zieht sich bis in die heutige EU, taugt aber inzwischen nicht mehr zur großen Vision. Dass Deutschland als zentralem, wirtschaftsstärkstem und bevölkerungsreichstem Land Europas hier eine Schlüsselrolle zufällt, war nicht nur erwartet worden, sondern wurde auch immer wieder an verschiedenen Stellen gesagt. Innenpolitisch hat Deutschland da ähnlich reagiert wie außenpolitisch: pro Wirtschaft, pro USA. Und gar nichts ernsthaft europäisches folgte. Die Unterstützung der EU-Institutionen (mit all ihren vorhandenen Fehlern) und ihre Verteidigung gegen Anfeindungen reichen leider nicht aus. Von Anfang an haben Skeptiker der EU ein Demokratiedefizit attestiert (was Brüssel zur leichten Beute von Lobbyisten und Parteiklüngel gemacht hat und bis heute massiv Glaubwürdigkeit kostet). Dieses Versäumnis geht vielleicht weiter als bisher eingeschätzt. Es würde mich nicht wundern, wenn die Geschichte darüber ein recht hartes, zumindest kopfschüttelndes, Urteil fällen würde.

Europa.
Die EU hat es ebenfalls nicht geschafft, eine gemeinsame Vision voran zu treiben, die stärker ist, als nationale Eigeninteressen. Letztere haben sich leider auf fatale Art und Weise durchgesetzt (beginnend beim deutschen Umgang mit Griechenland während der Finanzkrise, über Orbans Autokratie in Ungarn bis hin zum national-polemischen Polen). Zwischendurch dämmerte es zwar einigen Staats-/Regierungschefs mal, dass ein starkes Europa gut wäre, dass man dafür über gemeinsame Außenpolitik nachdenken sollte und dass die Nato vielleicht doch nicht mehr die richtige Form ist oder hat, die das einzige Bündnis mit globalem Einfluss, indem Europa steckt, haben sollte. Ich denke da vor allem an Frankreich (Macron: „die NATO ist hirntod“), aber Frankreich dachte da wohl vor allem an sich. An seine alten Einflusssphären und Instrumente. Aber leider gab es nie einen Konsens. Nicht mal ein „Agreement to disagree“, ja nicht mal eine handlungsfähige Gruppe, die sich zur Suche nach einer Übereinkunft verabredet hätte. Zu der Idee später nochmal. Gerade die Hinwendung der USA zum Konflikt mit China und dem pazifischen Raum zeigt deutlich, dass Europa sich um eigene Interessen künftig selbst wird kümmern müssen. Und wenn man nicht daran glaubt, dass Russland, China, die USA und einige Schwellenländer (witzigerweise könnte man GB nach dem Brexit auf diplomatischer Bühne dazu zählen) ihre Interessen verfolgen können sollten, wie sie möchten, wenn man nicht daran glaubt, dass die auch im Konfliktfall schon die richtigen Lösungen finden werden – dann sollte man sich vielleicht selbst organisieren.
Ich kann mich erst einmal dafür erwärmen, den Streit den Streithähnen zu überlassen und sich als Europa eben gerade nicht einzumischen – wenn China und die USA z.B. wirklich einen neuen kalten Krieg aufziehen wollten oder auch den einen oder anderen heißen Konflikt, Handelskrieg, was auch immer – da wäre es doch ganz gut, keiner Seite Bündnistreue geschworen zu haben oder zwischen die Fronten zu geraten. Allerdings hat das Ganze einen Haken. Was wenn die Welt als Ganzes instabiler wird und z.B. Russland das ausnutzt? Um, während einige im Pazifik beschäftigt sind, in einer „Zuckerbrot und Peitsche“-Manier (also nicht als klarer Angriff zu deklarierende Aktionen) osteuropäische Staaten abzuwerben? Oder um mit Troll-Armeen und Desinformation weiter an der Spaltung westlicher Bevölkerung zu arbeiten und damit auf Dauer demokratische Werte unmöglich zu machen? Das sind zwar irgendwie Horrorszenarien, aber ganz sicher nicht völlig aus der Luft gegriffen. Ich bin mir nicht sicher, ob die EU, wie sie aktuell aufgestellt ist, in der Lage wäre, das wirksam zu verhindern. Und da ist eine gemeinsame Außenpolitik sicher hilfreich, selbst ohne „high end“ Militärbündnis. Aber auch dieses – wie gesagt, obwohl ich skeptisch gegenüber Militär bin – könnte nützlich oder gar notwendig werden. Es ist nun mal so, dass Diplomatie und Verständigung besser funktionieren, wenn die Gesprächspartner wissen, dass man notfalls auch anders könnte. Und umso sympathischer, wenn man zu diesen Mitteln dann trotzdem nicht greift.
Hinzu kommt die Problematik Naher Osten (eigentlich sogar vom Maghreb bis Zentralasien). Hier ist seit einiger Zeit zu erkennen, dass die USA bisher nicht geeignet waren, Konflikte zu lösen und dass sie das Interesse verloren haben. Was sie dabei hinterlassen haben und was der Klimawandel noch hinzufügen wird, ist beunruhigend. Und mit den Folgen zusammenbrechender oder gerade noch von Diktatoren zusammengehaltener Staaten, wird vor allem Europa leben müssen. Flüchtende, Terrorgruppen und eine Nachbarschaft, in der keine Zusammenarbeit und wirtschaftliche Entwicklung möglich ist, sind schon jetzt die Folge und werden es bleiben. Da es auch in Afrika keine handlungsfähige politische Allianz gibt, bleibt nur Europa, um das Problem anzugehen.
Wie an China schon beschrieben, gehe ich davon aus, dass sie bereits planen, ihren Einfluss auszudehnen (rein territorial wie auch in der Tiefe). Und wenn Europa in irgendeiner Form mitreden möchte, wo da rote Linien sind und vielleicht doch noch ein Gegenmodell abgeben möchte, in dem demokratische Werte und Menschenrechte noch zählen, dann muss es selbst ernst genommen werden. Und China wird einen zerstrittenen Haufen, für den sich auch die USA nur noch marginal interessieren, nicht ernst nehmen. Na gut, die Meinung der USA zählt auch nur bedingt, nämlich sofern sie sich nicht selbst demontieren – wie schnell das möglich wäre, hat die Zeit mit Trump eindrucksvoll gezeigt. Auch die chinesische Bevölkerung – wie gesagt intensiv vom pragmatischen Macht- und Stabilitätsgedanken beeinflusst – wird das demokratische Modell als gescheitert einstufen, wenn es nicht mehr vorzuweisen hat, als schöne Worte, die im Geplänkel untereinander untergehen. Früher war das noch der Wohlstand, aber den verspricht inzwischen auch die KP durch Taten statt Worte. Mit weiterem Streit ohne klare Linie würde Europa den Beweis antreten, den die KP-Führung die ganze Zeit zu führen versucht: dass Demokratien verlogen und schwach sind und es sich nicht lohnt, diesem Modell anzuhängen – selbst wenn die persönlichen Freiheiten irgendwie nett sind. Der erwähnte Pragmatismus würde einfach beweisen (und seinen eigenen Beitrag dabei geflissentlich übersehen), dass sowas auf Dauer nicht klappt.

Die NATO.
Zur NATO stehe ich kritisch. Das ist schade, könnte sie doch genau das Gegengewicht sein, das demokratische Staaten, denen Menschenrechte – oder weil es so abgegriffen und häufig missbraucht ist, sagen wir vielleicht mal Bürgerrechte – etwas bedeuten, nutzen könnten, um nicht unter die Räder zu kommen. Mein Anspruch basiert aber auf ethischen Grundsätzen und der Glaubwürdigkeit nach außen und das hat die NATO nachhaltig zerstört. Meine Kritik: die NATO war geschaffen als Fraktion gegen den Warschauer Pakt, sie war der militärische Arm des Westblocks gegen den Ostblock. Und in dieser Funktion hat sie einiges mitgetragen, das absolut nicht mit meinen Werten konformgeht. Da wäre der Vietnamkrieg zu nennen (schon dessen offizieller Auslöser war inszeniert), die Stationierung von Nuklearraketen gegen die Absprachen mit dem Warschauer Pakt (der Auslöser der Kubakrise waren entgegen gepflegter Mythen nämlich die USA bzw. NATO und nicht Kuba, SU bzw. Warschauer Pakt) und das Versprechen bei Auflösung der SU, sich nicht nach Osten auszubreiten – was eiskalt gebrochen wurde (und vermutlich schon so einkalkuliert war, als das Versprechen gemacht wurde). Und auch danach ging es so weiter. Das ist das Schlimmste, denn nach Ende des Ost-West-Konflikts wäre es möglich und geboten gewesen, zu sagen „Schwamm drüber, lass uns neu anfangen, angepasst an eine Welt, in der jeder ein potentieller Verbündeter ist“. Es wäre möglich gewesen, die NATO in einen (selbst-)Verteidigungspakt freiwilliger Mitglieder umzuwandeln – eng gebunden an Völkerrecht und Absprachen mit den UN. Stattdessen haben die Westmächte – allen voran die USA – weiterhin Staaten ausgegrenzt und ihre Interessen vertreten – sogar gegen die Interessen einzelner NATO-Mitglieder. Und wenn sich mal wieder Diskussionen über den Zustand der NATO abzeichnen, wird mantra-artig wiederholt, dass das Bündnis zusammenhalten müsse, dass seine jetzige Form so bleiben soll, dass es nichts aufzuarbeiten gäbe und dass es quasi „natürliche Feinde“ der NATO gäbe. Einsätze, die die USA nicht wollen, weil sie ihnen nichts einbringen, werden abgelehnt (selbst wenn sie beispielsweise zur Stabilität an Europas Grenzen beitragen sollen) und Einsätze, die umstritten, evtl. völkerrechtswidrig und eher eskalierend als befriedend sind, werden durchgezogen, wenn sie im Interesse der USA sind. Dazu kommt, dass ein Dogma aufgestellt wurde (vor allem im deutschen Wahlkampf zu beobachten, dass nahezu alle Parteien ein – noch dazu völlig bedingungsloses – Bekenntnis zur NATO verlangen bzw. vor sich hertragen), dass die NATO ein unauflösbarer Teil westlich-demokratischer Staaten sei. Solche Dogmen aus einer anderen Zeit auf alle Situationen der Gegenwart und absehbaren Zukunft zu übertragen, finde ich inakzeptabel. Vor diesem Hintergrund die Verpflichtung zur erhöhten finanziellen Unterstützung durchdrücken zu wollen, unterstreicht, wie wenig kooperativ dieses „Bündnis“ inzwischen ist. Von den Fliehkräften in den Interessen der einzelnen Mitgliedsländer ganz zu schweigen. Oder gar den faulen Kompromissen, die gemacht werden, um Bündnispartner zu halten (siehe Türkei). Und dann ist da noch der Punkt, dass die NATO als Akteur (oder in der Systemtheorie gesprochen als eigenes System) ein Interesse daran hat, sich selbst am Leben zu halten – so tritt die NATO manchmal als politisches Sprachrohr ihrer Mitglieder auf und klingt dabei eher nach militärischem Säbelrasseln als nach politischer Handlungsfähigkeit. Die politischen Mittel der Konfliktlösung, welche immer vorzuziehen sind, können durch solche Drohkulisse und Inflexibilität aber leicht an den Rand gedrängt werden. Meistens wenn „die NATO“ für ihre Mitglieder spricht, überschreitet sie ihre Kompetenzen. Ich bin also nicht in jedem Fall gegen „so etwas wie“ die NATO aber ich bin ein entschiedener Kritiker dieser NATO.

Russland, die USA und der Rest.
Diese habe ich alle am Rande schon erwähnt und halte es für unnötig, hier große eigene Kapitel zu verfassen. Mein Gefühl aber ist, dass sie alle sich in den Jahren seit der Jahrtausendwende eher von natürlichen Verbündeten Europas wegentwickelt haben anstatt näher heranzurücken. Eine Sonderrolle, die das noch unterstreicht, nimmt Großbritannien ein. Und wenn es stimmt, was über die Finanzierung und den Anschub der Brexit-Kampagne aus Russland gesagt wird (ich halte es für plausibel), dann ist das gleich das nächste Ausrufezeichen.

Auflösung der Widersprüche.
Geht man nun von einem ethikbasierten Ansatz aus, um zu bestimmen, wohin die Reise gehen soll, dann ergeben sich natürlich viele Schwierigkeiten. Ich meine das so: ich möchte keine eigene Version des „America first“ für Deutschland oder Europa, ich möchte kein unhinterfragtes „der Westen gehört zusammen und wir sind immer die Guten“ (waren „wir“ historisch nicht, im Gegenteil) und ich möchte keinen chinesischen Pragmatismus a la „in einer feindlichen Welt ist alles erlaubt, was funktioniert – gemessen in Stabilität der eigenen Macht“. Auf der anderen Seite glaube ich aber auch nicht daran, dass bei der jetzigen Dynamik (verschiedene Mächte schnuppern Morgenluft, wollen sich einen besseren Platz in der Weltordnung sichern bzw. kämpfen, ihre alte Stellung nicht zu verlieren) pazifistische Zurückhaltung funktionieren wird. Einfach immer wieder sagen, dass man für Demokratie und Menschenrechte steht, dass man sich in Konflikte nicht hineinziehen lassen will und dass die anderen gefälligst das Völkerrecht achten sollen, wird nicht ausreichen, um diese Ziele zu erreichen – ja nicht einmal um deren Status Quo zu halten. Demokratie und Völkerrecht würden zerrieben und nicht nur in ihrem unfertigen Zustand verharren, sondern sogar weitgehend verdrängt. Dass dann immer wieder in den eigenen Reihen „Realisten“ aufstehen, die bereit sind für andere Prioritäten diese Werte zu opfern, macht es nicht besser. Im Gegenteil, das ist genau das Scheunentor, das Troll-Armeen zur weiteren Spaltung nutzen und was das herablassende „wir haben euch doch gesagt, es funktioniert nicht“ aus China bestärkt. Es sieht – leicht zugespitzt – so aus, als entwickle sich alles dahin, dass die europäischen Staaten sich entscheiden müssen, ob sie sang- und klanglos untergehen oder alle ihre Werte über Bord schmeißen und frei nach Macchiavelli zu erfolgreichen Verbrechern werden wollen.
Ich wünsche mir weder das eine, noch das andere, aber ich sehe es in vielem, was so diskutiert wird, durchschimmern – auch wenn die Vortragenden das naturgemäß nicht zugeben oder einsehen wollen, dass es darauf hinausliefe. Aber was wäre nun ein möglicher Ausweg? Ich stelle mir das in etwa so vor: Europa macht sich klar, dass die Entwicklung unerbittlich voranschreitet und nicht danach fragt, ob man mit den entstehenden Dilemmata einverstanden ist. Diese Drohkulisse vermag vielleicht doch noch zu Kompromissen und größeren Anstrengungen verhelfen. Und dann rauft man sich zusammen und gründet ein Forum für gemeinsame Außenpolitik. Dieses darf sich gern verfestigen und von einem regelmäßigen Treffen zu einer eigenständigen Instanz der EU werden.
Um die gemeinsame Außenpolitik zu vervollständigen, wird ein EU-Verteidigungspakt geschlossen, indem geregelt ist, welche Kommandostrukturen im Einsatzfall gelten, welche Aufgaben die nationalen Armeen übernehmen (können), welche Waffentechnik (aber auch Cyberabwehr usw.) in die eigene Strategie passt und evtl. noch geschaffen werden muss. Es wird also keine EU-eigene Armee in dem Sinne geben, sondern weiterhin die nationalen, diese haben aber ein gemeinsames Oberkommando, das sie im Einsatzfall rufen und koordinieren kann. Im Prinzip die bessere Version der NATO, die auch wirklich europäische Interessen vertreten kann.
Intern muss dann eine klare Linie gefahren werden: gemeinsame Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte sind unverhandelbar, wer nicht mitmachen will, soll nicht mitmachen. Hier ein kleiner Exkurs zu Polen und Ungarn: Beide Staaten haben bewiesen, wie dreist man mit der EU umspringen kann. Orban hat ein System aus Günstlingswirtschaft aufgebaut, das sich an EU-Subventionen bereichert und gleichzeitig mit faschistisch-populistischen Mitteln europäische Ziele und Werte demontiert. Und Polen, als größter Netto-Empfänger von EU-Subventionen, geht ebenfalls in diese Richtung (begründet auf einem erzkonservativen Katholizismus). Es ist offensichtlich, dass beide Regierungsgruppierungen gegen die EU hetzen, aber ihr Erfolg vollständig von Geld aus der EU abhängt. Wie sich der Stärkere (und moralisch überlegene) so vom Schwächeren (und moralisch absolut unwürdigen) erpressen lassen kann, ist mir vollkommen unklar. Was habe ich verpasst, was dieses skurrile Schauspiel rechtfertigt? Einige sagen ja, wenn man jetzt Konflikte mit Polen und Ungarn austrägt, riskiert man den Zusammenhalt der EU. Allerdings sind die Konflikte nicht zu übersehen, auch wenn man sie nicht austrägt und den Zusammenhalt gefährden sie ebenfalls schon jetzt – weil sich einige schrecklich ärgern, so von denen an der Nase herumgeführt zu werden und andere sich vielleicht ein Vorbild daran nehmen, mit wieviel man durchkommt.
Wenn ich „die EU“ schreibe, meine ich natürlich nicht alle Mitgliedsstaaten gleichermaßen, zentrale Kraft müssen – aus historischen, wirtschaftlichen und Mehrheitsgründen – Deutschland und Frankreich sein. Wünschen kann ich diese EU von der ich spreche natürlich allen, die freiwillig dazu gehören wollen, aber die Arbeit in diese Richtung kann ich zuerst von diesen beiden erwarten. In letzter Zeit kam es immer mal wieder zu Misstönen bei europäischen Projekten, weil sie innenpolitisch schlecht zu verkaufen sind oder eben einzelne Kämpfe um Verantwortung, Kosten und Prioritäten für innenpolitische Interessen verwendet wurden. Dieses Problem ist aber nicht gänzlich unauflösbar, denn es ist (wie ich hoffentlich hinreichend deutlich dargestellt habe) absolut im Interesse der nationalen Bevölkerungen und Unternehmen, dass es eine starke EU auf globaler Bühne gibt. Folglich wäre es Aufgabe der Politiker*innen, diese Ziele mehr hervorzuheben, anstatt trügerische Angebote zu machen, in denen man möglichst viel für „sich selber“ herausschlägt oder „von den anderen“ schultern lässt. Politiker*innen sollten nicht versuchen damit zu punkten, dass sie besonders gut für ihr Land verhandelt hätten – denn die EU abzocken, heißt letztlich, sich selber zu bestehlen. Wenn es oft genug kommuniziert würde, dass Europa diesbezüglich an einem Scheideweg steht, würden vielleicht auch einige Wähler*innen und Lobbygruppen sich für den mittelfristig lohnenden – statt den kurzfristigen – Vorteil entscheiden.
Gedankenspiel: kehren wir das „Teile und herrsche“-Prinzip mal um. Wäre es nicht nützlich, wenn sich die einzelnen Länder der EU angleichen würden, wenn wir so handelten, als säßen wir wirklich in einem Boot? Ich denke, das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung: wenn wir uns trotz Union so verhalten, als könnten wir uns gegeneinander ausspielen, dann sitzen wir eben nicht in einem Boot. Dann lässt ein EU-Staat (Deutschland) eben seine eigenen Banken daran profitieren, dass ein anderer pleitegeht. Oder ein anderer nimmt eben keine Geflüchteten auf, das können mal schön die anderen schultern. Oder einer hält sich eben nicht an Absprachen zu Klimaschutz (Polen) oder Geldwäsche- und Korruptionsbekämpfung (Deutschland) usw. usf. Wenn wir uns aber stattdessen so verhalten würden, als wollten wir wirklich EINE Europäische Union sein, dann sind wir es auch. Und ich glaube angesichts des geopolitischen Umfelds und dem, was wir für die nähere Zukunft erwarten können, werden wir Einheit brauchen. In der Not steht man zusammen. Und geopolitisch halte ich die EU tatsächlich für ein Schiff, das in einen heftigen Sturm fährt.

9/11 und der „war on terror“

Ich möchte jetzt mal was klarstellen: eure Darstellung kotzt mich an. Wer und was ist gemeint? Es geht um die Verzerrung des kollektiven Gedächtnisses, die – vielleicht sogar aus Arroganz und Unachtsamkeit, statt aus Kalkül – gerade wieder auf Hochtouren läuft. Dem Publikum westlicher Medien wird erzählt, wie “wir” uns alle gefühlt haben und was “wir” alle gedacht haben.

Vor wenigen Wochen: Der Abzug aus Afghanistan hinterlässt einen Scherbenhaufen auf vielen Ebenen und die Analysten brabbeln in immer neuen Variationen den selben Quatsch. Außer an einigen Stellen, wo ich kritische Stimmen gefunden habe, die von der Verlogenheit und Planlosigkeit gleich beim Einmarsch in Afghanistan erzählten. Erstaunlicherweise gelingt es Zeitungen und teilweise sogar Autoren im selben Artikel, wo diese Stimmen zitiert werden, völlig widersprüchliche Aussagen zu vertreten. Also einerseits, geben sie zu, dass es vielleicht weniger um einen Wandel in Afghanistan als viel mehr um Rache ging. Aber dann erzählen sie, wie der Westen sich verzettelt habe, wie seine Mission gescheitert sei, diagnostizieren im Nachhinein die genannte Verlogenheit und Planlosigkeit. So als habe sich das aus Sachzwängen und mangelndem Interesse im Lauf der Jahre ergeben. Aber wie kann ich an der Demokratisierung scheitern, wenn ich das – als planvoll anvisiertes Ziel – nie versucht habe? Ich bin ja auch nicht an der Besteigung des Mount Everest gescheitert, wenn ich noch nichtmal eine Reise ins Himalaya vorbereitet habe. Wie kann ich hinterher sagen “man sei wohl zu blauäugig und planlos” gewesen, wenn einige Kritiker (auch diese zitierten) von Anfang an gesagt haben, dass es nie um Afghanistan, das Verhältnis zum Islam, der politischen Ordnung im Nahen Osten oder sonstwas ging? Es ist einfach eine Falschdarstellung, dass dem Westen da Fehler unterlaufen seien. Auch wenn das als entwaffnende Offenheit daherkommt. Es ging den USA ursprünglich darum, Stärke zu demonstrieren, es ging darum zu zeigen, dass niemand sie ungestraft angreifen darf und dass die USA die Macht haben, sich internationale Unterstützung für eine Militäroperation am anderen Ende der Welt zu holen und dort ihre technische Überlegenheit zu demonstrieren. Mit dem perfiden Unterton Richtung Islamisten: “und alle Zivilisten, die hier sterben, gehen auf euer Konto – sowas kommt von sowas.” Später dazu mehr.

Und da nun der 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September ist, wird noch einmal erzählt, wie das alles war und was daraus folgte. Nur leider finde ich mich da nicht wieder. Und das ist nicht wegen mir persönlich schade, sondern weil es eine Scharnier-Funktion hat, für das ganze schiefe Verhältnis, das “der Westen” zur Welt hat. Denn ich habe mich nicht angegriffen gefühlt, wie so schön mantra-artig wiederholt wird: “als die Flugzeuge in die Türme krachten, wird der westlichen Welt ihre Verletzlichkeit bewusst. Der ganze Westen fühlt sich angegriffen.” So oder ähnlich wird es überall nacherzählt. Das ist eine Verzerrung und vielleicht sogar eine bewusste Lüge. Und es tut mir leid für alle jungen Menschen, die das nicht selbst erlebt haben (oder nur als Kleinkinder) und die sich jetzt ein Bild machen wollen über die Ereignisse.

Damals hatte ich das Gefühl, dass in meinen Kreisen viele Menschen (einschließlich mein Geschichtslehrer in der Oberstufe) entsetzt darauf geschaut haben, wie simpel der Hass sich aufschaukeln und jede Vernunft ersticken kann. Wie wenig “der Westen” das ist, was wir uns als Entwicklung nach Ende des kalten Krieges erhofft hatten. Zur Erinnerung: ich bin in der DDR geboren, aber in der BRD zur Schule gegangen. Gerade haben verschiedenste Beobachter – linke Intellektuelle genau wie einfache, eher unpolitische Bürger – noch die Hände vors Gesicht geschlagen, als George W. Bush denkbar knapp zum US-Präsidenten gewählt wird. Michael Moores “stupid white men” facht die Debatte über ein dysfunktionales Amerika auch in Europa an – naja, nicht als Ursache, aber als besonders deutliches Symptom der Debatte kann man das Buch gelten lassen. Es gab jede Menge “Memes”, die George W. Bush verunglimpften. Wohlgemerkt vor 9/11. Es wurde auch über Anti-Amerikanismus diskutiert, weil es natürlich die ganzen Ossis gab, die mit Sowjet-Propaganda aufgewachsen waren und Wessis, die das Gefühl der 68er verinnerlicht hatten. Dabei ist natürlich zu hinterfragen, ob das nach dem Faschismus nicht eine denkbar einfache Umdeutung ist, ein Land, die dominierende Kultur, alles was daran hängt, in Bausch und Bogen zu verteufeln – genau das selbe Feindbild eben, wie auch die Nazis pflegten. Auch wenn ein diskriminierendes Bauchgefühl kritisch zu hinterfragen ist, die Argumente, die damals wie heute auf den Tisch kommen, wenn “Amerika” kritisiert wird, wiegen schwer.

Dazu der Widerspruch des bunten Heile-Welt-Zukunfts-Gefühls der 90er mit den realen Problemen des Aufbau Ost, den Kriegen in Irak und Jugoslawien. Irgendwie gab es ja das Gefühl “jetzt wo der kalte Krieg vorbei ist, wird endlich alles gut” und “jetzt, wo die Welt geeint ist, können wir den Hunger in Afrika und die Umweltverschmutzung bekämpfen”. Und gleichzeitig war zu erkennen, dass es irgendwie doch nicht so einfach werden würde.

In dieser Gemengelage war die Kritik an den USA als Führungsmacht absolut naheliegend. Wer wenn nicht die müsste voran gehen? – Niemand, natürlich! Wir als Weltgemeinschaft, vielleicht als eine UNO mit ganz neuem Selbstbewusstsein, müssen das in die Hand nehmen. Die USA sind der falsche Anführer, so wie überhaupt das Konzept eines Anführers kritikwürdig ist. Zivilgesellschaft von unten ist wichtig. Das waren in meiner Blase damals völlig normale Positionen. Und dazu stehe ich nach wie vor.

Und jetzt zurück zu den direkten Reaktionen auf die Anschläge: mein erster Impuls als politisch interessierter Abiturient war “Ohje, ausgerechnet jetzt, wo dieser großkotzige Depp Präsident geworden ist, greifen Terroristen die USA spektakulär an, wenn der jetzt das tut, was alle ihm zutrauen, haben die Terroristen geschafft was sie wollten: sie haben Krieg. Alles wird sich radikalisieren und für Stimmen der Vernunft, für ein Streben nach gemeinsamer Zukunft (siehe Hoffnungen der 90er) ist – schon wieder! – kein Raum mehr. Der wird doch hoffentlich Berater haben, die ihn aufhalten?”

Insofern war mir klar, dass es ein perfider Plan von Al-Kaida wäre, die USA genau so zu provozieren, dass sie wie ein hirnloser, wütender Riese um sich schlagen. Und ich hatte gehofft, dass es im Rest der westlichen Welt genügend anderen (wichtigeren) Leuten auch klar ist, so dass sich diese fatale Reaktion abwenden ließe. Leider nein. Mit Kopfschütteln habe ich kurz darauf zur Kenntnis genommen, dass Luftangriffe auf Afghanistan folgten und dann der ganze Rest. Wie sollte man auch mit B52-Bombern gezielt Terroristen treffen? Und weil das wohl auch der US-Regierung auffiel, dass sie nicht einfach nach ein paar Flächenbombardements und Cruise Missiles, die irgendwelche Höhlen in den Bergen pulverisieren, wieder abziehen können, mussten sie einmarschieren, mit Bodentruppen ins Land. Und wenn sie einmarschieren, müssen sie sichere Zonen schaffen, wo sie ein Lager errichten können. Und dafür müssen sie der Bevölkerung vor Ort irgendwas versprechen. Und dann muss in den Ländern der Verbündeten (Deutschland war nach der Wiedervereinigung dummerweise gerade soweit, nicht nein sagen zu können, als ihre Bündnistreue verlangt wurde – wobei man darüber streiten kann/sollte!) verkauft werden, was das eigentlich alles ist – denn “ihr hattet Recht, der Riese schlägt hirnlos wütend um sich” konnte man ja schlecht sagen… Und so kommen wir zu der Geschichte des Afghanistan-Einsatzes, wie er wirklich war. Im Laufe der Zeit ergab sich da noch mehr, aber das war – aus meiner Perspektive nacherzählt – der verhängnisvolle Ablauf, bei dem ich mich eigentlich permanent fremdgeschämt hab. Und entsprechend vehement erklärt habe, wie doof ich das finde und zu welchen Untaten die USA immer wieder fähig sind. Denn dieser Westen wollte ich nicht sein.

Und dann kam der nächste Irak-Krieg 2003. Und da hat – zum Glück – sogar der deutsche Außenminister sich mal getraut, auf offener Weltbühne zu widersprechen. Joschka Fischer sagte zur Beweisführung der USA, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen bunkern würde “I’m not convinced.” – Für’s diplomatische Parkett eine ordentliche Klatsche! Und dann bin auch ich mit Plakat in Leipzig demonstrieren gegangen. Gerade hatte ich eine Art Manifest geschrieben, nämlich meine Gewissensbegründung zur Wehrdienstverweigerung. Und nun ging ich Zivi mit langen Haaren auf eine Demo gegen die Kriege der USA. Ein Hauch 68er. Damals war der Konsens der versammelten Menschen dort: dass “Bomben gegen Terror” ein Widerspruch in sich sind, muss ja wohl jeder zugeben, der darauf angesprochen wird – das kann man nur unterstützen, wenn man entweder strunzdumm ist oder gar nicht an Beendigung von Terror interessiert. Da sind wir wieder bei der Aussage “sowas kommt von sowas” – das lässt sich jederzeit rumdrehen. Also dass sich Streit mit “aber der hat angefangen” nicht beenden lässt, hat hoffentlich jeder im Lauf des Erwachsenwerdens gelernt.

Und so bekamen dann doch nochmal Verschwörungstheorien Aufwind. Zu 2001 schrieb ich ja, dass es mir absolut plausibel war, dass Terroristen diesen Zeitpunkt wählen, um die USA anzugreifen und die Lage eskalieren zu lassen. Insofern glaubte ich auch nicht an Verschwörungserzählungen und Geraune, dass die Türme gesprengt wurden, das Wrack im Pentagon kein Flugzeug wäre usw. Aber als mal wieder der Hang zur Lüge als Kriegsbegründung, die Verachtung abweichender Meinungen, die geölte Kriegsmaschine der USA – die ganze Dummheit, die fast schon Absicht sein musste in so hohen Regierungskreisen – zu Tage traten, schienen Zweifel berechtigt, ob nicht auch das Fingieren eines Anschlags – mit realen Opfern! – ihnen zuzutrauen wäre. Ich hatte Zweifel und ich denke, es gab tatsächlich Versagen, Nachlässigkeit aus Arroganz, Vertuschung von Fehlern usw. – Aber an ein komplettes Skript glaube ich nicht. Damals wie heute.

Dennoch möchte ich festhalten, dass mir die Art und Weise wie über 9/11 und die Folgen berichtet wird, überhaupt nicht passen. Die Kriege, die die USA im Namen des “containment” geführt haben (jenem Gerede, dass Kommunismus in einem Land zu einem Domino-Effekt in den Nachbarländern führen könne und daher präventives Eindämmen geboten wäre – sogar indem man demokratisch gewählte Sozialisten durch faschistische Autokraten ersetzt, wie in Chile – wie kann man so blöd sein zu übersehen, dass einem das nicht mehr als “Kampf für die Demokratie” abgenommen werden würde?!?) – diese Kriege waren zur Zeit des Ost-West-Konflikts falsch und die, die in ähnlicher Manier nach dem Ende des kommunistischen Blocks geführt wurden, waren es auch. Und weil diese Debatten das Handeln der USA auf der Weltbühne immer in Echtzeit begleitet haben, ist es eine Frechheit gegenüber allen Menschen, die dieses Handeln besonnen und in offener Argumentation kritisieren, jetzt einen enttäuscht-zerknirschten Rückblick zur Schau zu stellen. Wir müssen uns eben nicht verwundert die Augen reiben, wie der gutmütige Westen nur so scheitern konnte gegen all seine verworrenen Widersacher. Schon von Anfang an hat ein bemerkenswerter Teil des Westens den anderen Teil gewarnt, dass sie gerade dabei sind, solche Widersacher selbst auszubrüten.

Bei dem Titel müsste ich jetzt noch über die Einschränkungen der Grundrechte „zur Terrorbekämpfung“, über Guantanamo, Abu Ghraib, Chelsea Manning usw. schreiben, überspringe das aber mal mit dieser kurzen Andeutung. Es ist zumindest viel passiert, was weltweit, aber vor Allem im Westen, Kontroversen ausgelöst hat. Und so wie damals 9/11 nicht im luftleeren Raum geschehen ist und sich als Kurzgeschichte auf leere Seiten schreiben lässt, so findet auch diese Auseinandersetzung nicht ohne Kontext statt. Aktuell sehe ich Themen wie die aufstrebende neue Rechte und die aufziehende Klimakatastrophe und mir schläft das Gesicht ein und ich muss schlucken: ist es das gleiche Muster? Hier gibt es seit Jahren Menschen, die besonnen und in offener Argumentation – in Echtzeit – Vorschläge machen und Fehler kritisieren. Ein Teil des Westens warnt den anderen Teil vor Dummheit, Arroganz und übertriebender Abgebrühtheit. Werden wir auch da, wenn es endgültig verkackt ist – in der Rückschau – zu hören bekommen, wie “wir” als Westen da reingeschlittert sind, mit den besten Absichten, aber vielleicht irgendwie blauäugig – echt jetzt?!?

Dieses Gefühl des ewigen “face palm” werde ich wohl nicht los. Ganz unzweifelhaft als Teil des Westens. Aber als der, der sich fremdschämt.

Politik und Consulting, Teil 2

Betrachtet mensch nun die andere Seite: also nicht Politiker*innen, die “nebenbei” auch beraten, sondern “the big four” im Consulting (KPMG, PWC, EY, McKinsey), die auch so ein bisschen in Politik machen… Tja, ihr ahnt es, dann ist das auch nicht besser.

Politik höchster Ebenen, vorrangig meine ich hier Ministerien auf Bundesebene, haben sich in letzter Zeit abhängig gemacht, von Beratungsleistungen der “big four”. Das ist auf diversen Ebenen falsch:

1. haben die Ministerien durchaus fähiges Personal – oder Mittel, dieses Personal zu befähigen

2. entsteht so eine Abhängigkeit, die entweder ausgenutzt werden kann, horrende Preise aufzurufen oder einfach gefährlich ist, weil die Ministerien immer verantwortlich sind, ihre Aufgaben zu erfüllen, die Consultingfirmen aber nicht, wieder zur Verfügung zu stehen

3. ist hier nicht sichergestellt, dass die Beratung im Interesse der Allgemeinheit bzw. im Einklang mit den Zielen der jeweiligen Regierung ist, sondern sie kann (auch ohne böse Absicht) in eine Richtung verzerrt sein, die den sonstigen Zielen der “big four” entsprechen

4. werden ggf. schlicht Steuergelder verschwendet, weil z.B. Ursula von der Leyen (Beispiel rein zufällig) jemanden bei McKinsey (ebenfalls reiner Zufall) kennt, die genau das richtige Angebot für die Aufgabe hat (was dann nicht nachweisbar besser, nicht einmal nachweisbar gut, aber dafür nachweisbar teuer ist – so geschehen beim ohnehin anfälligen Bereich “Beschaffung” der Bundeswehr, vgl. meine Magisterarbeit)

5. werden komplizierte Vertragswerke fällig, wer wann wie was leisten muss – und häufig ist am Ende niemand haftbar – das untergräbt das Vertrauen in die Arbeit von Politik und Verwaltung (auch wieder rein aus interner Logik! Setzt keinen bösen Willen voraus!)

6. entstehen eigentlich die gleichen Probleme (teils, aber nicht vollständig, durch Punkte 1-5 abgedeckt), wie bei Public Private Partnerships (PPP) in anderen Bereichen entstehen – eine aufschlussreiche Doku dazu war bereits “Der geplünderte Staat” von 2014…

Was schließen wir nun daraus? Demokratische Politik unterliegt Forderungen nach Abstimmung und Transparenz. Es ist demnach notwendig, Beratungsleistungen für die Politik genau den gleichen Prinzipien zu unterwerfen. Wenn Beratungsleistungen zugekauft werden sollen, muss also in irgend einem Gremium abgestimmt werden, ob und nach welchen Kriterien das ausgeschrieben werden soll. Und die Verträge und Ergebnisse müssen offengelegt werden. Und dann wäre natürlich noch der Anspruch schön, dass in einem Staat wie Deutschland (über 80 Mio Einwohner, reiches Land, aktive Arbeitsmarktpolitik, hohe Zahl staatlich Beschäftigte*r), genügend internes Wissen verfügbar ist, um vorhersehbare Aufgaben allein mit Angestellten des öffentlichen Dienstes zu bewältigen. Wer behauptet, dass dies nicht gewährleistet ist, soll den Vergleich darlegen: was kostet es, diese Aufgabe “out-zu-sourcen” und was kostet es, dafür eigene Kräfte zu mobilisieren? Wenn mensch hier die Gründe 2-6 versucht gegenzurechnen, stelle ich es mir außerordentlich schwer vor, noch mit den “big four” als Lösung zu argumentieren…

Politik und Consulting

Da kürzlich die Frage aufkam, was eigentlich Politker (der Union) mit ihren Beratungsfirmen so während der Pandemie tun oder taten, möchte ich die Frage mal allgemeiner angehen.

Der Skandal: Politiker von CDU und CSU haben sich fürstlich entlohnen lassen, dass ihre Beratungsfirmen Masken besorgen können – eigentlich ein Cent-Artikel, aber eben aktuell rar… Wer schon hier Bauchdrücken bekommt, wegen dieser unangefochtenen Gültigkeit des Marktmechanismus (der ja auch in anderen Fällen eher der Marktmanipulation dient, als dem Wettbewerb) – der * die möge jetzt aufhören zu lesen.

Das ist natürlich unschön. Die Doppelrolle als Kümmerer bzw. Krisenbewältiger und dann auch noch als gewiefter Geschäftsmann, das hat G’schmäckle, das ist ein Interessenskonflikt. Aber was ist denn allgemein davon zu halten, wenn Politiker*innen nebenbei noch im Consulting tätig sind? Ist doch ganz natürlich, dass umtriebige Menschen, die wissen, wo und wie welche Entscheidungen zustande kommen, gut geeignet sind, andere Menschen in Entscheidungsfindung zu beraten, oder? Ist doch gut, wenn das Volk Vertretende wissen, was in der Wirtschaft gefragt ist… Berufspolitiker*innen, die jeden Bezug zur arbeitenden Bevölkerung verloren haben, kann doch keine*r wollen!? Naja, warum gehen die Vertretenden dann nicht putzen, um mal den Kopf frei zu kriegen? Oder ehrenamtlich was mit Senioren unternehmen? Oder Maschinen im produzierenden Gewerbe bedienen? Nagut, das ist jetzt polemisch. Ja, wieso eigentlich?

Gerade die Tätigkeit im Consulting liegt zwar nahe, ist aber äußerst problematisch. Das liegt einerseits daran, dass hier Insiderwissen aus der Politik (und gute Kontakte) an Lobby-Interessen weiterverkauft werden (können). Und in vielen Berufen gibt es klare Regeln im Arbeitsvertrag, dass kein Insiderwissen an Konkurrenten weitergegeben werden darf – warum soll das ausgerechnet beim Gemeinwohl anders sein? Warum unterschreibe ich bei einer Maschinenbaufirma, dass meine Ideen während der Arbeitszeit dem Unternehmen gehören und ich vielleicht sogar gesperrt bin, sechs Monate nach Ende des Arbeitsvertrags in derselben Branche weiterbeschäftigt zu werden – aber als Politiker*in darf ich zeitgleich alle Interna an interessierte Dritte verkaufen?

Und andererseits ist eine Erkenntnis aus der Betrachtung vieler Korruptionsskandale, dass Beratungshonorare eine der Lösungen par excellence sind, um Bestechungsgelder juristisch rein zu waschen. Sagen wir, ich habe als Politiker für eine Branche eine besonders günstige Regelung erwirkt oder dafür gesorgt, dass mein Ministerium die Einhaltung bestimmter Regeln ein paar Jahre nicht überprüft – das wäre doch aus Sicht des Branchenverbandes oder des führenden Unternehmens in diesem Bereich eine kleine Anerkennung wert, oder? Aber wenn ich nun plötzlich Summe X überwiesen bekomme, könnte das den Eindruck erwecken, ich wäre käuflich – pfui! Na, dann habe ich eben die Firma oder den Branchenverband beraten. Wegen meiner Expertise. Und ich habe ganz sicher fünf Stunden Fachgespräch mit denen geführt, Coaching, Erfahrungsaustausch. Und da mein Wissen und meine Fähigkeiten einzigartig sind, ist es vollkommen angemessen, dass ich für diese fünf Stunden (und die reichliche Vorbereitung, die ich dafür hatte) 580.000€ Honorar bekomme. Sie erinnern sich an den Marktmechanismus oben? Wenn das Angebot derart rar, aber nachgefragt ist, dann sind auch reichlich 100.000€ Stundensatz angemessen. Logisch oder? Nix verdächtiges dran. Beweisen Sie das Gegenteil!

Und das ist der Grund, warum ich diesmal keine Unschuldsvermutung habe. Die Erfahrung lehrt uns, dass es hier angemessen wäre, diese umzukehren: wer trotz Bundestagsmandats noch weitere Berufe ausüben will, soll deren Nutzen und Unbedenklichkeit nachweisen anstatt anders herum. Es gibt jede Menge bezahlter Tätigkeit, die ich für lobenswert und angebracht hielte, aber parallel eine Beratungsfirma zu halten, ist das verdächtigste, was ich als Politiker*in machen kann. Ende der Durchsage.

Lernen aus Corona-Krise

Mir sind zur aktuellen Lage in der Corona-Krise ein paar Gedanken durch den Kopf gegangen – Vermutlich geht es Ihnen ähnlich.
Mich hat zuerst mal überrascht, dass wir ein so simpel aussehendes, aber doch unlösbares Dilemma haben: immer fließt Geld im Kreis, wenn es plötzlich stoppt, ist es wie bei „Reise nach Jerusalem“, wenn die Musik aus geht – nur halt, dass mehr als nur ein Stuhl fehlt.
Konkreter: ein Restaurant muss schließen, weil es keine Gäste mehr aufnehmen darf, es muss sein Personal entlassen, die verdienen nix mehr, können evtl. keine Miete und kein Essen mehr bezahlen. Und: ein Autohersteller bekommt keine Teile aus China mehr, stellt die Produktion ein, seine regionalen Zulieferer müssen auch schließen – und eigentlich ihre Leute entlassen oder insolvent gehen. Und: ein Einkaufszentrum bekommt keine Kunden mehr, weil die nicht vors Haus wollen oder dürfen, also machen sie zu, haben aber laufende Kosten…
Weil also keiner mehr Geld vom anderen bekommt, gehen alle pleite. Moment mal?
Wieso fehlt eigentlich Geld, das in unveränderter Menge da ist, nur weil es nicht fließt? Könnten wir nicht alles einfrieren, Pausetaste drücken, wenn jemand eine Rechnung zu begleichen hat, wird einfach gesagt „machen wir, wenn es wieder weiter geht“? So wie Anschreiben in der Stammkneipe. Die Kette von abfließendem Geld wird unterbrochen.
Das einzige, was sich nicht pausieren lässt, ist Nahrungsmittel- und vielleicht Energie- Konsum. Könnte man das nicht staatlich auffangen (ohne dass ich konkret wüsste wie das geregelt sein kann)? Noch ein Gedanke zur Mietzahlung: wenn es so wäre, dass z.B. das Restaurant seine Mitarbeiterinnen entlassen muss, weil es keine Einnahmen mehr hat, aber die Miete müsste es weiter zahlen, wäre etwas grundsätzlich schief, das leistungslose Einkommen muss gezahlt werden, aber alle anderen nicht. Tendenziell würde das Einkommen für Menschen, die es nicht dringend brauchen (die meisten Vermieter sind vermögend und würden nicht hungern sobald diese Einnahme ausfällt – Sanierungen etc. können während einer Pandemie ruhen) weiter gezahlt werden auf Kosten derer, die davon leben müssen (Kellnerinnen und Köche z.B.). Daher: keine Leistung, die nicht absolut notwendigerweise erbracht werden muss, muss bezahlt werden. Also keine Restaurantgäste bedeutet keinen Lohn für den Gastronom, keine Löhne für sein Personal, keine Miete, kein Einkauf, keine Steuern – alles auf Pause. Das einzige was weiterlaufen muss, das ist die Versorgung mit Lebensmitteln, Zahlung nur an Bauern und Einzelhandel, das wird direkt durch einen Staatskredit oder aus dem Steuertopf finanziert. Solidarisch. Alle anderen Kettenglieder werden übersprungen. Denn sonst findet eine Art Schwarze-Peter-Spiel oder halt „Reise nach Jerusalem“ statt, jeder versucht sein Geld noch zu bekommen, obwohl alle wissen, dass irgendwer leer ausgeht. Unsolidarisch. Dieses Prinzip ist natürlich nur anwendbar, wenn es eine Naturkatastrophe, wie aktuell die SARS-CoV-2-Pandemie gibt. Also nur, wenn alle betroffen sind, aber niemand schuld ist. Oder vielleicht doch die Idee mit dem Grundeinkommen? Alle Bürgerinnen bekommen für die Dauer der Krise ein Grundeinkommen vom Staat, jeder kann überleben, für Gewinne, die darüber hinausgehen muss aber niemand aufkommen. Also der Autohersteller und das Einkaufszentrum haben Pech, wenn nun seine Aktien und Gewinne fallen, die Angestellten dort – sogar die Aktionäre – alle bekommen Grundeinkommen auf Staatskredit, Notversorgung. Niemand hat jetzt Anspruch darauf, ein sechsstelliges Gehalt zu bekommen, aber es wird auch niemand verhungern.
Was mir im Zuge dieser Gedankenexperimente auffiel: es ist eigentlich ein umgekehrtes Wörgl. Die alten Frei- und Regiogeld-Ideen beruhen darauf, Geld wieder zum Fließen zu bringen, weil die Krise die Unterbrechung wirtschaftlich sinnvollen Tuns war. Jetzt aber ist eine Unterbrechung wirtschaftlichen Tuns nötig (wie vielleicht anders skaliert und nicht auf alle Branchen bezogen, dafür aber zeitlich unbegrenzt, in der Klimafrage nötig
– Stichwort Postwachstum?). Welche Geldkreisläufe ermöglichen ein Herunterfahren der Wirtschaftsleistung auf das Überlebensnotwendige ohne Kollaps? Wenn das aktuelle Zeitfenster genutzt wird, darauf gute Antworten zu finden, könnte es ein großer Fortschritt in Sachen Nachhaltigkeit werden!
Der Gedanke wurde ja schon vorsichtig aufgegriffen, z.B. hier
und vielleicht haben Sie auch schon Gespräche dazu geführt: Corona schafft, was Klima-Politik nicht geschafft hat: auf einmal können wir anders handeln, 180-Grad-Wende – Menschen retten geht vor Wirtschaft, und Schaden an der Welt wird minimiert.
Weniger sinnfreie Produkte hergestellt, weniger Konsum, weniger Verkehr… Natürlich möchte auch ich nicht sagen „gut, dass Corona dazwischen kam“ – denn ganz klar ist es eine Katastrophe unter der viele leiden, noch viele mehr leiden werden und die Menschen tötet. Das ist nichts Wünschenswertes! Aber könnte es gelingen, den Ausnahmezustand als Blaupause dafür zu verwenden, was wir wirklich brauchen – und
worauf wir verzichten können bzw. sollten?
Wir brauchen Nahrung, medizinische Versorgung, politische und administrative Strukturen, Elektrizität, Wasser, digitale Infrastruktur und rücksichtsvolle Mitmenschen. Aber brauchen wir so viel Autoverkehr, so viele Flugreisen, so viel Shopping? Falls wir nun gezwungenermaßen mehr Ruhe und Zeit mit uns selbst haben werden – für viele ist ja aktuell noch Stress mit der Umstrukturierung von Arbeit und Kinderbetreuung – aber
wenn es plötzlich ruhig wird, können wir ja noch mal in uns gehen und wirken lassen, was uns wichtig ist und worauf wir verzichten können, wenn wir einsehen, dass Verzicht nötig ist. Vielleicht sind sich da die Rettung der Menschheit vor dem Virus und die Rettung des Planeten vor dem Kollaps des Ökosystems gar nicht so unähnlich.
Und was für ein Geldsystem brauchen wir dann? Kann es eines geben, das politisch flankiert auch Stillstand und einfach nur kostendeckendes Produzieren, Handeln, Dienstleisten aushält? Eines das nicht ständig wachsen und umlaufen muss, um zu funktionieren? Das als Tauschmittel aber zur Verfügung steht, wenn es eine Nachfrage danach gibt?

Arbeit und Sinn

Ein Mantra der bürgerlichen Gesellschaft ist, dass Arbeit sowohl etwas notwendiges, als auch rundum gutes sei. Beidem möchte ich widersprechen. Die Argumentation wird deutlicher, wenn ich mit „gut“ anfange. Ist es wirklich gut, wenn ein Immobilienmakler von der Vermieterin/Verkäuferin bestellt werden kann, der Mieter/Käufer auf ihn angewiesen ist, um einen Vertrag zu schließen, aber letztlich nur ordentlich draufzahlt? Dafür, dass der Makler im Zweifelsfall nur aufschließt, totalen Quatsch erzählt und dir eine Karte mit der Adresse gibt, an die du alle Unterlagen schicken sollst? Das wurde ja wohl weitgehend abgeschafft, eben weil es offensichtlich nicht fair ist. Aber bis dahin galt es doch als respektabel, wenn man sagt „ich bin im Immobiliengeschäft“?!?
Anderes Beispiel: eine Angestellte der Rüstungsindustrie, die Granatenzünder entwickelt, Raketenleitsysteme programmiert oder beim Aufbau der Fabriken im Ausland hilft, mit denen der Konzern die Export-Auflagen umgehen kann. Ist das gut, dass sie diese Arbeit macht?
Oder die Unternehmensberaterin, die viel verdient, deren Ratschläge von den namhaftesten Unternehmen befolgt werden, die ständig im Arbeitsmodus ist – das ist doch Leistungsprinzip pur, oder? Vielleicht rät sie aber auch nur zu geschickter Bilanzbuchhaltung mit Tochterfirmen (die sich alles gegenseitig in Rechnung stellen), wodurch der namhafte Konzern viel Steuern spart. Und sie rät, Angestellte zu entlassen und als Freelancer, Zeitarbeiter*innen usw. wieder anzustellen. Und sie rät, bei der Regierung den Fachkräftemangel anzuprangern, damit es Programme aus Steuergeldern gibt, die die Ausbildung finanzieren. Der Konzern kauft dann die berühmte eierlegende Wollmilchsau zum Einstiegsgehalt. Wo kämen wir als Wirtschaftsstandort denn hin, wenn sich nicht jederzeit 24-Jährige Masterabsolvent*innen mit drei Fremdsprachen, Praxiserfahrung und Reisebereitschaft über die Wochenenden finden ließen? Richtig! Das wäre ein skandalöser Wettbewerbsnachteil und schlichtweg Fachkräftemangel. Ist es gut, dass jemand diese Arbeit macht? Schön, dass sie einen gesellschaftlichen Druck auf alles und jeden erzeugen, dass jede*r mehr leisten und weniger kosten muss? Immer noch besser, diese Menschen machen in Immobilien, der Rüstung, dem Consulting als sie wären arbeitslos? Ich glaube nicht!
Es ist also nicht per se gut, dass jemand arbeitet, die entscheidende Frage ist was jemand arbeitet. Damit sind wir dann bei der Notwendigkeit. Jemand, der/die nichts beiträgt, hat auch keinen Anspruch auf Essen, ein Bett usw. – richtig? Mh, aber wenn der Beitrag darin besteht, einer alten Dame eine Versicherung zu verkaufen, die diese niemals brauchen wird, dann ist es ok, denn dieses Geld ist ja legal verdient worden? An den bereits genannten Beispielen wird deutlich, dass es jede Menge Arbeit gibt, die keinen Mehrwert für die Gesellschaft erzeugt, sondern Gewinn für wenige auf Kosten vieler. Wenn diese Menschen plötzlich nicht mehr arbeiten würden, würde dann ein nützlicher Beitrag fehlen? Hätten wir dann keine Betten und kein Essen mehr?

Hier kommt ein entscheidender Faktor hinzu, den wir gern übersehen: die Produktivitätssteigerung. Die Arbeitsmoral a la „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ macht dann Sinn, wenn wir jede*n brauchen, um unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen. Und dann haben wir auch ganz andere Arbeit: dann haben wir Gruppen von Menschen, die sehen, was gebraucht wird. Die sich gegenseitig helfen. Das war teilweise sogar schon in der Mangelwirtschaft der DDR zu beobachten. Aber wenn es wirklich ums Überleben geht, wird Arbeit als sinnvoll erlebt. Wenn ich eine Hütte brauche, um im Winter nicht zu erfrieren, bin ich motiviert, diese Hütte fertig zu bekommen. Wenn ich Hunger habe, lege ich auch ein Feld an oder gehe Beeren und Wurzeln sammeln. Dafür muss mich keiner bezahlen! Dafür muss kein Wecker klingeln und ich mir die Frage stellen „wofür zur Hölle, soll ich jetzt eigentlich aufstehen?“.
Nächster entscheidender Faktor, den wir oft übersehen: Arbeit ist nicht gleich Erwerbsarbeit. Ich kann sehr wohl etwas sinnvolles schaffen, ohne dass mich jemand dafür bezahlt! Heute wird allerdings synonym verwendet „arbeiten = irgendwas tun, wofür ich bezahlt werde“. Das möchte ich mit dem Kontext, welcher hier hergestellt wurde, radikal in Frage stellen.

Lasst uns loben, was wir aus intrinsischer Motivation tun, anstatt aus dem Zwang heraus „Geld zu machen“. Lasst uns immer die Frage stellen, welche Folgen unser Handeln hat – wer leidet darunter, wer profitiert davon? Lasst uns dem bürgerlichen Mantra „(Erwerbs-)Arbeit ist notwendig und gut“ abschwören. Lasst uns wagen, unsere Zeit für das zu nutzen, was wir selbst für sinnvoll halten. Und ja, hier wird es plötzlich kompliziert und radikal. Wenn ich gerade zur Miete und in der Stadt wohne, dann brauche ich doch Geld, um meine Bedürfnisse zu befriedigen. Was soll ich tun? Hier einige Gedanken zu den möglichen Lösungen.

Noch einmal zur Produktivität: de facto verläuft die wirtschaftliche Entwicklung mit Kapitalismus und Industrialisierung so, dass nach der Befriedigung der Grundbedürfnisse, welche mit immer weniger Aufwand möglich wird, neue Bedürfnisse geweckt werden müssen. Es werden sogar Kriege geführt um Absatzmärkte zu erobern. Es werden Millionen für die Werbung ausgegeben und Produkte absichtlich so hergestellt, dass sie nicht lange halten. Alles, damit weiter produziert und konsumiert werden kann. Alles nicht neu? Eben. Wieso ist es dann so schwer, sich vorzustellen, dass wir gar nicht alle Menschen im Arbeitsprozess brauchen würden?

Es gab in den 60iger Jahren Science-Fiction-Werke, in denen mensch sich vorstellte, dass künftig Roboter die Arbeit für uns machen. Menschen könnten dann alle Künstler und Philosophen sein, da wir nicht nur Zeit dafür, sondern auch den Kopf frei hätten. Eigentlich sind wir an diesem Punkt angekommen. Da sich die Gesellschaft aber eher entlang der wirtschaftlichen Effizienzlogik entwickelt hat, anstatt den Wert von Zeit und Arbeit neu zu definieren, müssen wir Angst haben, den Arbeitsplatz zu verlieren, anstatt uns darüber zu freuen ihn nicht mehr zu brauchen. Warum? Weil Erwerbsarbeit weiterhin die einzig legitime Möglichkeit ist, am Verteilungsmechanismus der geschaffenen Werte teilzuhaben.

Mögliche Lösungen sehe ich im Grundeinkommen und der Besteuerung der Arbeitsleistung von Maschinen.

Symbolpolitik

…ein klassisches Problem und eine unerwartete Folge von Demokratie.

Wir denken „wenn die Bürger*innen mitbestimmen, kommt was gerechteres dabei heraus, die Bürger*innen sind zufrieden“ – stattdessen: eben weil die Bürger*innen entscheiden (Wahlen + Stimmungen), wird Politik gemacht um zu gefallen (die aber manchmal inhaltlich gerade nicht das ist, was die Gesellschaft braucht).

Symbolpolitik heißt: Entscheidungen treffen, die so klingen, als tut mensch etwas gegen ein aktuelles Problem, die aber nicht wirklich zum gewünschten Ergebnis führen (können).
Beispiel: Obergrenze für Zuwanderung. Klingt konkret, ist aber Unsinn, denn ein Einreisestopp ist gar nicht durchführbar, Recht auf Asyl bleibt – wir können also gar nicht pauschal nach Zahl ablehnen, Fluchtursachen bleiben, Frust im Inland richtet sich gegen Zuwander*innen kommt aber aus anderen Quellen, Radikale fühlen sich nicht beschwichtigt sondern bestätigt…

Wenn sich Politiker*innen für Symbolpolitik mehr Zustimmung erhoffen (können) als für echte Lösungen, entsteht Murks gerade DURCH das demokratische Verständnis (eigentlich wollen wir Bürger*innen ja, dass Politiker*innen „auf uns hören“).

Was wäre die Lösung?

  • Bürger*innen sind besser informiert und bereit nach Logik statt Bauchgefühl zu entscheiden.
  • Politiker*innen schlagen mehrere Lösungen vor und vergleichen, welche Folgen jeweils zu erwarten sind.

Warum passiert das nicht?

  1. Bürger*innen sind intellektuell und emotional ungebildet (Selbstreflexion „warum bin ich unzufrieden?“ „suche ich einen Sündenbock?“ „kenne ich die Zusammenhänge?“) bzw. zu beschäftigt mit anderem kein Vorwurf! Dafür können die Bürger*innen auch nicht (immer)!
  2. Wenn Politiker*innen mehrere Lösungen vorschlagen und die Folgen abwägen würden, wird deutlich, dass sie auch nicht alles wissen und beeinflussen können. Dadurch stehen sie nicht als starke Anführer da – das wünschen sich aber viele Menschen.
  3. Politiker*innen können sich beliebt machen und in Konkurrenz zu anderen Politiker*innen durchsetzen, wenn sie „laut poltern“ und einfache Antworten anbieten (Gegenmodell ist Angela Merkel, sie kündigt gar nichts an und entscheidet je nach Situation, was die Machtverhältnisse hergeben. Wer nichts verspricht, kann nichts brechen.)
  4. Wer sich durchsetzt entscheidet, also gibt es zwar Politiker*innen, die es ehrlicher und vorsichtiger versuchen, aber gerade WEIL wir eine Demokratie haben, kommen die selten an die Macht (kämen sie in einer Diktatur aber auch nicht).

Können wir also nur aufgeben – hat ja eh keinen Sinn?

  1. Dann wäre es womöglich noch schlimmer, weil jede Mahnung an Vernunft fehlt. Kritik, Fragen und alternative Ideen der Bürger*innen werden von Medien und Politiker*innen trotzdem wahrgenommen!
  2. Vielleicht lässt sich durch gutes Vorbild und Aufklärung der Prozentsatz derjenigen erhöhen, die echte Lösungen wollen. Viele Änderungen in der Politik haben durch soziale Bewegungen begonnen – Französische Revolution, Frauenwahlrecht, Umweltschutz…
  3. Erst wenn sich die Macht solcher Bewegungen zeigt, reagiert der demokratische Parteiapparat, sie sollen ja schließlich die Bürger repräsentieren, wenn es also keine konstruktiven oder (radikal) neuen Vorschläge aus sozialen Bewegungen gibt, was sollen Parteien dann repräsentieren? Eben. Immer die gleichen alten hilflosen Versuche, etwas zu ändern, ohne wirklich etwas zu verändern. Oder eben die destruktiven Vorschläge.

Das mit „Bürger ungebildet“ ändert sich gerade – Kitas und Schulen heute haben weniger autoritären Stil, Kinder üben Mitbestimmung (nicht als laissez faire sondern mit Verantwortung). Das ist zumindest eine Grundlage für neue Bürger*innen (und neue Politiker*innen, die waren ja auch mal Kinder). 

alte (verkrustete?) Demokratie

Die repräsentative Demokratie, wie wir sie bisher kennen, hat natürlich historische Gründe und ich möchte eines klar sagen: ich bin dankbar für die Möglichkeiten, die sie uns bietet. Ich bin all den Vorkämpfer*innen dankbar, die sich auch unter Gefahr für Leib und Leben dafür eingesetzt haben!

Allerdings hat dieses System auch Nachteile, die durch Gewöhnung aller Beteiligten nicht besser werden (Forderungshaltung der Bürger*innen, die ansonsten aber wenig Lust auf anstrengende Aushandlungsprozesse haben, Suche nach Lücken seitens Lobbyist*innen etc.). Außerdem ist Verhalten stark von Kultur geprägt. Unser allgemeines Rollenverständnis spiegelt sich in der Politik natürlich wider.

Eine Rolle, die wir sehr häufig haben, ist die der Konsument*innen. Wenn ich es mal auf die Spitze treibe: wir werden zu Konsument*innen erzogen und verlernen großteils etwas anderes zu sein.

Nicht in dem Sinne, dass Eltern sagen „du sollst nur eine Kaufentscheidung treffen…“, aber im Sinne, dass wir überall Vorbilder dieser Art präsentiert bekommen und durch unsere anonyme Massengesellschaft viele Räume entstehen, in denen wir automatisch diese Rolle einnehmen, weil für den vollständigen Umfang einer sozialen Interaktion Zeit, gegenseitige Kenntnis usw. fehlen. Ich gebe zu: manchmal ist auch mir das sehr recht, ich gehe gern mal einkaufen, ohne ergebnisoffen sozial interagieren zu müssen, aber denken wir weiter…

Weiter zu meiner leichten Übertreibung: Die heutige Demokratie ist reiner Consumerism! Wir machen nicht mit, sondern wählen nur aus dem aus, was uns vorgesetzt wird.

Als anständige*r Konsument*in erwarten wir dann natürlich, dass auch anständig geliefert wird. Was interessiert es uns, wie es hergestellt und verschickt wird?
Und auch die Parteien und einzelnen Politiker*innen, die uns etwas anbieten, haben sich vollständig darauf eingestellt: emotional manipulierende aber vage Werbeversprechen und möglichst glatte Oberfläche… Ist doch okay, einen Job zu machen, für den mensch bezahlt wird. Solange die Kunden kaufen, ist das Produkt austauschbar, oder?
Btw: Kennt ihr den „Tütensuppen-Totalitarismus“ von Marc-Uwe Kling?

Durch die reine (Selbst-)Beschränkung auf das Wählen aus gegebenen Angeboten, entsteht eine Entfremdung wie bei Marx vom Arbeiter und seinem Produkt. Also wir können uns aufgrund viel zu geringem Gestaltungsspielraums einfach nicht mehr mit dem Ergebnis identifizieren und das Gefühl von Stolz auf Erreichtes und schlichtweg des Sinns dessen, was wir da tun, geht verloren. Wir als reine Konsumenten von Politik entfremden uns daher also immer weiter von den politischen Themen und Verfahren.

Deshalb brauchen wir andere Verfahren mit echter Beteiligung und weniger Hierarchie. Hier einige Ideen und Vorschläge dazu.

Durch Wettbewerb als Methode in der repräsentativen Parteien-Demokratie entsteht (oder wird weiter gepflegt, obwohl sie aus anderen Bereichen kommt) eine Konkurrenzmentalität, die destruktiver als eine Konsensidee ist: Mensch nimmt sich gegenseitig die Stimmen weg, mensch versucht eigene Anträge und Gesetzesvorschläge durch zu bekommen – gönnt sie aber nicht „den politischen Gegner*innen“, mensch besetzt Themen für sich usw. – Statt gemeinsame Positionen und Bündnisse zu suchen, suchen Politiker*innen nach Wettbewerbsvorteilen. Das ist aber kein (zumindest nicht nur) menschliches Versagen, keine böse Eigenart der Beteiligten, sondern ein Konstruktionsfehler des politischen Systems. Wenn Macht nötig ist, um entscheiden zu dürfen und Macht daher kommt, dass mensch sich gegen andere behauptet, ist ja logisch, dass nur zwei Arten Politiker*innen übrig bleiben: die erfolglosen, die nie großen Einfluss haben und die, die im Machtspiel besonders gut sind. Also nicht unbedingt die, die wir eigentlich als Staatsbürger*innen brauchen: die besonders gute Entscheidungen für alle treffen. Auf die Güte von Entscheidungen haben wir nämlich nur sehr bedingten Einfluss, wenn zuerst der Erfolg im Machtspiel nötig ist, um entscheiden zu dürfen, wir dann nur bedingt sehen, wie etwas entschieden wurde und uns für das nächste Mal darauf verlassen müssen, was uns versprochen wird.

Ein weiteres wichtiges Kriterium im Auswahlverfahren für das Ausüben von Macht ist die Fehlertoleranz. Wenn Politiker*innen stets vorgeworfen wird, was sie versprochen, aber nicht eingehalten haben.

Anstatt, dass sie daran gemessen werden, was sie getan haben, um es zu erreichen, ob sie berechtigte oder faule Kompromisse eingegangen sind, ob es noch möglich ist, es im nächsten Versuch zu schaffen…

Dann brauchen wir uns natürlich auch nicht zu wundern, wenn die Politiker*innen, die schon länger im Geschäft sind und durch die Hierarchien ihrer Partei (sog. Ochsentour) an wichtige / verantwortungsvolle Positionen gekommen sind, besonders gut darin sind, nichts konkretes anzukündigen. Wenn sie um den heißen Brei herumreden müssen, damit sie hinterher nicht sofort an Aussagen, die sie mal gemacht haben, gemessen – und schnell aussortiert – werden, dann tun sie das natürlich: sie reden um den heißen Brei herum oder werden aussortiert. Das sind die Spielregeln, ist doch völlig klar, wer da auf Dauer gewinnt, oder nicht?

Noch ein Grund, warum Politiker*innen sich gern unklar ausdrücken: in kurzen Statements, wie sie über Medien verbreitet werden, kann mensch schlecht Kritiker*innen überzeugen. Da aber jede Stimme zählt (Konkurrenzprinzip), ist es erfolgversprechender, alle irgendwie anzusprechen. Also lieber irgendwas wohlfeiles dahergesagt, als durch ein Missverständnis oder eine Idee, deren Zeit noch nicht reif war, jemanden vergrault.
Ein weiterer Grund ist natürlich auch, dass Parteien in dem beschriebenen System immer eigene Positionen brauchen, sich die Beteiligten selbst als Konkurrent*innen empfinden und daher etwas anderes durchsetzen wollen, als die anderen. Demnach braucht es Verhandlungspotenzial für sog. Kuhhandel und Kompromisse, wo sie sich aufeinander zu bewegen. Würden Politiker*innen bereits vorher zuviele klare „ich möchte xy und das kann ich über z erreichen“-Aussagen machen, hätten sie weniger Spielraum, für diese Deals einer Umsetzung. Wie ein gemeinsames Ergebnis verkauft werden soll, entscheidet mensch besser hinterher.

Nochmal: all das sind Folgen der geltenden Spielregeln und kein individuelles Versagen, weil „die Politiker*innen“ alle blöd und / oder böse wären. Ein weiterer Baustein dieser Reihe ist die Symbolpolitik.