Doppelmoral

Mich müsste freuen, dass „die Weltgemeinschaft“ sich mal weitgehend einig ist. Und dass Sie einen Krieg verurteilt und das Grauen, das damit im Kriegsgebiet einhergeht – ebenso wie die diplomatischen Lügen und Ausflüchte des Verursachers und dessen Propaganda im Heimatland. Es ist großartig, dass das Notwendige gesagt wird. Endlich.

Ich komme aber nicht umhin, auch ungläubig den Kopf schief zu legen und die Augen zusammen zu kneifen. Moment, was habe ich da gehört?

Es soll sofort zur Anklage gebracht werden, dass ein anderes Land völkerrechtswidrig angegriffen wird? Natürlich soll es! Aber die EU und USA rufen das Russland zu. Die selben USA, die 2003 im Irak… Na gut, wenn es um die gute Sache geht, will ich mal nicht kleinlich sein. Was bringt auch dieses Aufrechnen. Saddam war ein Diktator. Auch wenn er erst von den USA aufgebaut wurde und sein Sturz das Leben im Land nicht besser gemacht hat…

Wenn Zivilisten getötet werden – und zwar als Folge der Taktik und der eingesetzten Mittel, nicht nur als „Ausrutscher“ – dann sind das Kriegsverbrechen, die vor Gericht gehören. Aber nur im Falle Russlands. Der „war on terror“ hat zwar ebenfalls nachweislich tausende Zivilisten das Leben gekostet, aber das ist ja etwas anderes. Sagen die zivilisierten Länder des Westens. Und die müssen es wissen. Kontroversen über juristische und moralische Abgründe des Drohnenkriegs hin oder her. Im Zweifel nennt man es halt hinterher einen Irrtum – obwohl die Argumente alle bekannt waren.

Und Leute, die im Land, das den Krieg führt, verhaftet werden, weil sie dagegen protestieren? Das ist ein ganz klares Zeichen für die Schuld des Unrechtsregimes! Wenn man als Landesverräter beschimpft wird, wenn man nicht zu den Streitkräften steht, ist das Repression. Und sollte es Kriegsverbrechen geben und man macht diese öffentlich, muss natürlich international gegen die Täter und Befehlsgeber verhandelt werden – und nicht etwa gegen die Whistleblower. Außer im Falle der USA. Die können weiterhin überall nach Völkerrecht rufen, aber selbst kommen sie mit Guantanamo und Abu Ghraib davon. Wer die Streitkräfte kritisiert wird als „unamerikanisch“ beschimpft. Chelsea Manning, Edward Snowden und Co. werden verfolgt. Den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag erkennen die USA nicht an und haben sogar schon Sanktionen gegen ihn verhängt, als er unliebsam ermitteln wollte. Aber jetzt bei Putins Krieg? Da sind Ermittlungen und moralische Empörung erwünscht. Ist ja auch schlimm.

Scharfe Sanktionen sind eine logische Konsequenz gegen Staaten, die die Zivilgesellschaft unterdrücken und in ihrer Nachbarschaft Krieg anzetteln. Ist doch klar. Außer bei Saudi-Arabien. Denen liefert die Bundesrepublik seit Jahren moderne Waffen. Mit Diktatoren redet man nur begleitet durch Druck, damit sie endlich einlenken. Außer vielleicht, wenn sie einem Flüchtlinge vom Hals halten. Also diese furchtbaren uneuropäischen Flüchtlinge.

Oder Geheimdienstoperationen gegen Überläufer: also dass Putin Menschen wie Skripal, Litwinienko oder Nawalny vergiften ließ, ist ein klarer Beleg dafür, dass er ein Verbrecher ist. Was aber ist aus den Ermittlungen geworden, dass die CIA womöglich Assange umbringen lassen wollte? Bestimmt nur Propaganda. Wie überhaupt immer, wenn einer mit dem Finger auf den anderen zeigt. Außer natürlich bei „Feinden des Westens“ – auf die muss man sogar mit dem Finger zeigen, weil das geht gar nicht. Politiker, die früher mal von Partnerschaft mit Russland und vertrauenswürdiger Diplomatie geträumt haben, sollen jetzt gefälligst Abbitte leisten für ihre Dummheit. Es kann nur eine Meinung zum Ukraine-Krieg geben. Aber nur weil das weitgehend wahr ist, heißt das nicht, dass es keine anderen Wahrheiten gibt, über die sich mal zu reden lohnt.

Auf einmal ist alles schwarz-weiß. Die Polen verteidigen die Werte der EU gegen die Autokraten. Die Ukrainer dürfen an unser Gewissen appellieren, wenn sie Beteiligung am Krieg fordern. Die NATO muss aufrüsten. Die Flüchtlinge sind plötzlich willkommen. Atomkraft und Frackinggas, das meilenweit per Schiff kommt, sind irgendwie doch vernünftig. Katar usw. sind Partner für die Zukunft. Die Berichterstattung bringt jeden Tag fünf Updates desselben Informationsgehalts und spiegelt das Schwarz-Weiß genauso wieder, wie es nunmal da ist – das ist aber keine Propaganda. Propaganda ist immer, was der andere sagt.

Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass die Welt doch keine bessere geworden ist, weil sich plötzlich alle einig sind. Dass die Wiederentdeckung einer „Verteidigung unserer Werte“ nicht plötzlich konsequent zur Anwendung gebracht wird (also Recht gesprochen ohne Ansehen der Person). Und – wie kann ich an sowas auch nur einen Gedanken verschwenden? – dass wir in den Staaten, die ihre Probleme haben mit westlichen Tiraden von Menschenrechten als Begründung unserer Politik, dass wir dort nicht gerade an Glaubwürdigkeit gewinnen. Aber um die Glaubwürdigkeit der Menschenrechte geht es ja auch nicht. Jetzt müssen wir erstmal das Böse besiegen. Bloss nicht zögern und rumkritteln.