9/11 und der „war on terror“

Ich möchte jetzt mal was klarstellen: eure Darstellung kotzt mich an. Wer und was ist gemeint? Es geht um die Verzerrung des kollektiven Gedächtnisses, die – vielleicht sogar aus Arroganz und Unachtsamkeit, statt aus Kalkül – gerade wieder auf Hochtouren läuft. Dem Publikum westlicher Medien wird erzählt, wie “wir” uns alle gefühlt haben und was “wir” alle gedacht haben.

Vor wenigen Wochen: Der Abzug aus Afghanistan hinterlässt einen Scherbenhaufen auf vielen Ebenen und die Analysten brabbeln in immer neuen Variationen den selben Quatsch. Außer an einigen Stellen, wo ich kritische Stimmen gefunden habe, die von der Verlogenheit und Planlosigkeit gleich beim Einmarsch in Afghanistan erzählten. Erstaunlicherweise gelingt es Zeitungen und teilweise sogar Autoren im selben Artikel, wo diese Stimmen zitiert werden, völlig widersprüchliche Aussagen zu vertreten. Also einerseits, geben sie zu, dass es vielleicht weniger um einen Wandel in Afghanistan als viel mehr um Rache ging. Aber dann erzählen sie, wie der Westen sich verzettelt habe, wie seine Mission gescheitert sei, diagnostizieren im Nachhinein die genannte Verlogenheit und Planlosigkeit. So als habe sich das aus Sachzwängen und mangelndem Interesse im Lauf der Jahre ergeben. Aber wie kann ich an der Demokratisierung scheitern, wenn ich das – als planvoll anvisiertes Ziel – nie versucht habe? Ich bin ja auch nicht an der Besteigung des Mount Everest gescheitert, wenn ich noch nichtmal eine Reise ins Himalaya vorbereitet habe. Wie kann ich hinterher sagen “man sei wohl zu blauäugig und planlos” gewesen, wenn einige Kritiker (auch diese zitierten) von Anfang an gesagt haben, dass es nie um Afghanistan, das Verhältnis zum Islam, der politischen Ordnung im Nahen Osten oder sonstwas ging? Es ist einfach eine Falschdarstellung, dass dem Westen da Fehler unterlaufen seien. Auch wenn das als entwaffnende Offenheit daherkommt. Es ging den USA ursprünglich darum, Stärke zu demonstrieren, es ging darum zu zeigen, dass niemand sie ungestraft angreifen darf und dass die USA die Macht haben, sich internationale Unterstützung für eine Militäroperation am anderen Ende der Welt zu holen und dort ihre technische Überlegenheit zu demonstrieren. Mit dem perfiden Unterton Richtung Islamisten: “und alle Zivilisten, die hier sterben, gehen auf euer Konto – sowas kommt von sowas.” Später dazu mehr.

Und da nun der 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September ist, wird noch einmal erzählt, wie das alles war und was daraus folgte. Nur leider finde ich mich da nicht wieder. Und das ist nicht wegen mir persönlich schade, sondern weil es eine Scharnier-Funktion hat, für das ganze schiefe Verhältnis, das “der Westen” zur Welt hat. Denn ich habe mich nicht angegriffen gefühlt, wie so schön mantra-artig wiederholt wird: “als die Flugzeuge in die Türme krachten, wird der westlichen Welt ihre Verletzlichkeit bewusst. Der ganze Westen fühlt sich angegriffen.” So oder ähnlich wird es überall nacherzählt. Das ist eine Verzerrung und vielleicht sogar eine bewusste Lüge. Und es tut mir leid für alle jungen Menschen, die das nicht selbst erlebt haben (oder nur als Kleinkinder) und die sich jetzt ein Bild machen wollen über die Ereignisse.

Damals hatte ich das Gefühl, dass in meinen Kreisen viele Menschen (einschließlich mein Geschichtslehrer in der Oberstufe) entsetzt darauf geschaut haben, wie simpel der Hass sich aufschaukeln und jede Vernunft ersticken kann. Wie wenig “der Westen” das ist, was wir uns als Entwicklung nach Ende des kalten Krieges erhofft hatten. Zur Erinnerung: ich bin in der DDR geboren, aber in der BRD zur Schule gegangen. Gerade haben verschiedenste Beobachter – linke Intellektuelle genau wie einfache, eher unpolitische Bürger – noch die Hände vors Gesicht geschlagen, als George W. Bush denkbar knapp zum US-Präsidenten gewählt wird. Michael Moores “stupid white men” facht die Debatte über ein dysfunktionales Amerika auch in Europa an – naja, nicht als Ursache, aber als besonders deutliches Symptom der Debatte kann man das Buch gelten lassen. Es gab jede Menge “Memes”, die George W. Bush verunglimpften. Wohlgemerkt vor 9/11. Es wurde auch über Anti-Amerikanismus diskutiert, weil es natürlich die ganzen Ossis gab, die mit Sowjet-Propaganda aufgewachsen waren und Wessis, die das Gefühl der 68er verinnerlicht hatten. Dabei ist natürlich zu hinterfragen, ob das nach dem Faschismus nicht eine denkbar einfache Umdeutung ist, ein Land, die dominierende Kultur, alles was daran hängt, in Bausch und Bogen zu verteufeln – genau das selbe Feindbild eben, wie auch die Nazis pflegten. Auch wenn ein diskriminierendes Bauchgefühl kritisch zu hinterfragen ist, die Argumente, die damals wie heute auf den Tisch kommen, wenn “Amerika” kritisiert wird, wiegen schwer.

Dazu der Widerspruch des bunten Heile-Welt-Zukunfts-Gefühls der 90er mit den realen Problemen des Aufbau Ost, den Kriegen in Irak und Jugoslawien. Irgendwie gab es ja das Gefühl “jetzt wo der kalte Krieg vorbei ist, wird endlich alles gut” und “jetzt, wo die Welt geeint ist, können wir den Hunger in Afrika und die Umweltverschmutzung bekämpfen”. Und gleichzeitig war zu erkennen, dass es irgendwie doch nicht so einfach werden würde.

In dieser Gemengelage war die Kritik an den USA als Führungsmacht absolut naheliegend. Wer wenn nicht die müsste voran gehen? – Niemand, natürlich! Wir als Weltgemeinschaft, vielleicht als eine UNO mit ganz neuem Selbstbewusstsein, müssen das in die Hand nehmen. Die USA sind der falsche Anführer, so wie überhaupt das Konzept eines Anführers kritikwürdig ist. Zivilgesellschaft von unten ist wichtig. Das waren in meiner Blase damals völlig normale Positionen. Und dazu stehe ich nach wie vor.

Und jetzt zurück zu den direkten Reaktionen auf die Anschläge: mein erster Impuls als politisch interessierter Abiturient war “Ohje, ausgerechnet jetzt, wo dieser großkotzige Depp Präsident geworden ist, greifen Terroristen die USA spektakulär an, wenn der jetzt das tut, was alle ihm zutrauen, haben die Terroristen geschafft was sie wollten: sie haben Krieg. Alles wird sich radikalisieren und für Stimmen der Vernunft, für ein Streben nach gemeinsamer Zukunft (siehe Hoffnungen der 90er) ist – schon wieder! – kein Raum mehr. Der wird doch hoffentlich Berater haben, die ihn aufhalten?”

Insofern war mir klar, dass es ein perfider Plan von Al-Kaida wäre, die USA genau so zu provozieren, dass sie wie ein hirnloser, wütender Riese um sich schlagen. Und ich hatte gehofft, dass es im Rest der westlichen Welt genügend anderen (wichtigeren) Leuten auch klar ist, so dass sich diese fatale Reaktion abwenden ließe. Leider nein. Mit Kopfschütteln habe ich kurz darauf zur Kenntnis genommen, dass Luftangriffe auf Afghanistan folgten und dann der ganze Rest. Wie sollte man auch mit B52-Bombern gezielt Terroristen treffen? Und weil das wohl auch der US-Regierung auffiel, dass sie nicht einfach nach ein paar Flächenbombardements und Cruise Missiles, die irgendwelche Höhlen in den Bergen pulverisieren, wieder abziehen können, mussten sie einmarschieren, mit Bodentruppen ins Land. Und wenn sie einmarschieren, müssen sie sichere Zonen schaffen, wo sie ein Lager errichten können. Und dafür müssen sie der Bevölkerung vor Ort irgendwas versprechen. Und dann muss in den Ländern der Verbündeten (Deutschland war nach der Wiedervereinigung dummerweise gerade soweit, nicht nein sagen zu können, als ihre Bündnistreue verlangt wurde – wobei man darüber streiten kann/sollte!) verkauft werden, was das eigentlich alles ist – denn “ihr hattet Recht, der Riese schlägt hirnlos wütend um sich” konnte man ja schlecht sagen… Und so kommen wir zu der Geschichte des Afghanistan-Einsatzes, wie er wirklich war. Im Laufe der Zeit ergab sich da noch mehr, aber das war – aus meiner Perspektive nacherzählt – der verhängnisvolle Ablauf, bei dem ich mich eigentlich permanent fremdgeschämt hab. Und entsprechend vehement erklärt habe, wie doof ich das finde und zu welchen Untaten die USA immer wieder fähig sind. Denn dieser Westen wollte ich nicht sein.

Und dann kam der nächste Irak-Krieg 2003. Und da hat – zum Glück – sogar der deutsche Außenminister sich mal getraut, auf offener Weltbühne zu widersprechen. Joschka Fischer sagte zur Beweisführung der USA, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen bunkern würde “I’m not convinced.” – Für’s diplomatische Parkett eine ordentliche Klatsche! Und dann bin auch ich mit Plakat in Leipzig demonstrieren gegangen. Gerade hatte ich eine Art Manifest geschrieben, nämlich meine Gewissensbegründung zur Wehrdienstverweigerung. Und nun ging ich Zivi mit langen Haaren auf eine Demo gegen die Kriege der USA. Ein Hauch 68er. Damals war der Konsens der versammelten Menschen dort: dass “Bomben gegen Terror” ein Widerspruch in sich sind, muss ja wohl jeder zugeben, der darauf angesprochen wird – das kann man nur unterstützen, wenn man entweder strunzdumm ist oder gar nicht an Beendigung von Terror interessiert. Da sind wir wieder bei der Aussage “sowas kommt von sowas” – das lässt sich jederzeit rumdrehen. Also dass sich Streit mit “aber der hat angefangen” nicht beenden lässt, hat hoffentlich jeder im Lauf des Erwachsenwerdens gelernt.

Und so bekamen dann doch nochmal Verschwörungstheorien Aufwind. Zu 2001 schrieb ich ja, dass es mir absolut plausibel war, dass Terroristen diesen Zeitpunkt wählen, um die USA anzugreifen und die Lage eskalieren zu lassen. Insofern glaubte ich auch nicht an Verschwörungserzählungen und Geraune, dass die Türme gesprengt wurden, das Wrack im Pentagon kein Flugzeug wäre usw. Aber als mal wieder der Hang zur Lüge als Kriegsbegründung, die Verachtung abweichender Meinungen, die geölte Kriegsmaschine der USA – die ganze Dummheit, die fast schon Absicht sein musste in so hohen Regierungskreisen – zu Tage traten, schienen Zweifel berechtigt, ob nicht auch das Fingieren eines Anschlags – mit realen Opfern! – ihnen zuzutrauen wäre. Ich hatte Zweifel und ich denke, es gab tatsächlich Versagen, Nachlässigkeit aus Arroganz, Vertuschung von Fehlern usw. – Aber an ein komplettes Skript glaube ich nicht. Damals wie heute.

Dennoch möchte ich festhalten, dass mir die Art und Weise wie über 9/11 und die Folgen berichtet wird, überhaupt nicht passen. Die Kriege, die die USA im Namen des “containment” geführt haben (jenem Gerede, dass Kommunismus in einem Land zu einem Domino-Effekt in den Nachbarländern führen könne und daher präventives Eindämmen geboten wäre – sogar indem man demokratisch gewählte Sozialisten durch faschistische Autokraten ersetzt, wie in Chile – wie kann man so blöd sein zu übersehen, dass einem das nicht mehr als “Kampf für die Demokratie” abgenommen werden würde?!?) – diese Kriege waren zur Zeit des Ost-West-Konflikts falsch und die, die in ähnlicher Manier nach dem Ende des kommunistischen Blocks geführt wurden, waren es auch. Und weil diese Debatten das Handeln der USA auf der Weltbühne immer in Echtzeit begleitet haben, ist es eine Frechheit gegenüber allen Menschen, die dieses Handeln besonnen und in offener Argumentation kritisieren, jetzt einen enttäuscht-zerknirschten Rückblick zur Schau zu stellen. Wir müssen uns eben nicht verwundert die Augen reiben, wie der gutmütige Westen nur so scheitern konnte gegen all seine verworrenen Widersacher. Schon von Anfang an hat ein bemerkenswerter Teil des Westens den anderen Teil gewarnt, dass sie gerade dabei sind, solche Widersacher selbst auszubrüten.

Bei dem Titel müsste ich jetzt noch über die Einschränkungen der Grundrechte „zur Terrorbekämpfung“, über Guantanamo, Abu Ghraib, Chelsea Manning usw. schreiben, überspringe das aber mal mit dieser kurzen Andeutung. Es ist zumindest viel passiert, was weltweit, aber vor Allem im Westen, Kontroversen ausgelöst hat. Und so wie damals 9/11 nicht im luftleeren Raum geschehen ist und sich als Kurzgeschichte auf leere Seiten schreiben lässt, so findet auch diese Auseinandersetzung nicht ohne Kontext statt. Aktuell sehe ich Themen wie die aufstrebende neue Rechte und die aufziehende Klimakatastrophe und mir schläft das Gesicht ein und ich muss schlucken: ist es das gleiche Muster? Hier gibt es seit Jahren Menschen, die besonnen und in offener Argumentation – in Echtzeit – Vorschläge machen und Fehler kritisieren. Ein Teil des Westens warnt den anderen Teil vor Dummheit, Arroganz und übertriebender Abgebrühtheit. Werden wir auch da, wenn es endgültig verkackt ist – in der Rückschau – zu hören bekommen, wie “wir” als Westen da reingeschlittert sind, mit den besten Absichten, aber vielleicht irgendwie blauäugig – echt jetzt?!?

Dieses Gefühl des ewigen “face palm” werde ich wohl nicht los. Ganz unzweifelhaft als Teil des Westens. Aber als der, der sich fremdschämt.

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