Unfähigkeit

Ich möchte einfach mal die Gelegenheit nutzen, frustige Gedanken zu sortieren und damit vielleicht etwas von dem Frust loszuwerden.

Ich habe es mehrmals angedeutet bezüglich Reaktionen auf die Corona-Pandemie und die Klimakrise: das wirklich beängstigende ist nicht einmal das Problem, sondern die völlig inadäquaten Reaktionen darauf, die das Problem verschlimmern bzw. neue Probleme schaffen. Herausforderungen sind ja keine Katastrophe, wenn man sie gemeinsam angeht. Aber wenn sie offenlegen, dass die Mitmenschen eine Bedrohung für dich, sich selbst und andere sind, dass diese Menschen mit all ihren toxischen Verhaltensweisen bleiben werden – und der Schaden, den sie angerichtet haben – selbst wenn das Problem gelöst wäre… Das erschreckt mich. Und dieses Gefühl verstärkt sich durch immer neue (zugegeben oft medial vermittelte, also evtl. skandalisierend-verzerrte) Beobachtungen. Jetzt natürlich weniger Corona und mehr über den Umgang mit Putins Russland, die Krise der liberalen Demokratien, die Systemkonkurrenz mit China, die konkreten Auswirkungen in Form der (gefühlten) Energiekrise usw.

Steter Tropfen höhlt den Stein. Ich gebe die Menschheit auf. Unrettbar. Und unwürdig gerettet zu werden.

Also einerseits waren wir schon so weit, dass es einen Diskurs über Postwachstum und die schnelle Abkehr von fossilen Energien gab. Und jetzt ist die einzige Frage, die Politiker*innen und Journalist*innen einfällt „wo sollen wir unser Gas herbekommen?“ und „es droht eine Rezession“. Droht? Ernsthaft? Rezession heißt nur, dass das ohnehin fragwürdige Maß für Wirtschaftswachstum, das BIP, unter Null sinkt. Das ist nicht schlimm, sondern notwendig! Zugegebenermaßen ist das noch implementierte Wirtschaftssystem auf Wachstum ausgerichtet und es wird rumpeln und Verwerfungen geben, wenn das Wachstum ausbleibt. Aber dass wir genau für dieses Rumpeln Lösungen finden müssen und nicht für stetig mehr Wachstum, ist lange bekannt. Den Druck der Krise, den (mal wieder) emotionalen Ausnahmezustand zu nutzen, um wieder in einen Zustand vor dieser Erkenntnis zurück zu kommen, ist verlogen. Und wer das nicht nur aus Selbstbetrug sondern vielleicht sogar kalkuliert und strategisch macht, ist nicht nur verlogen sondern niederträchtig. Ende der Durchsage.

Aber nicht nur die Größen aus Wirtschaft, Politik und Medien frustrieren mich, sondern auch das einfache Volk. Noch immer gibt es die kindische Gewohnheit gegen ein Problem zu demonstrieren. Eine sinnvolle Demonstration aber richtet sich auf das Verhalten anderer Menschen. Ich kann Alternativen vorleben oder eine Lösung, die mir gut erscheint, einfordern. Ich kann eine andere Lösung als schlecht kritisieren. Oder ich kann „gegen den Krieg“ oder „gegen steigende Preise“ demonstrieren. *facepalm*

Natürlich erfüllt das einen Zweck: wenn ich selbst nicht die Verantwortung für einen Vorschlag übernehme, sind nur die anderen (in der Regel „die da oben“) verantwortlich (in der Regel „schuld“). Ich brauch also weder wissen, wie es geht, noch selber dazu beitragen, noch akzeptieren, dass eine Lösung zu einem gewissen Preis kommt – ich verlange einfach, dass das Problem verschwindet. So einfach kann es sein.

Oder die simple Information, dass etwa 80% der Waldbrände von Menschen verursacht sind – fahrlässig oder gar absichtlich. Wenn wir uns einer apokalyptischen Klimakrise gegenüber sehen, mit Dürre in halb Europa usw. Und die Menschen nicht erst daran scheitern, auf nachhaltige Energieerzeugung und Landwirtschaft umzusteigen, sondern schon daran, nicht selbst die letzten Wälder abzufackeln (und das teilweise gar aus boshafter Absicht) – wieviel Hoffnung macht das dann für die Bewältigung des eigentlichen Problems?

Ich habe diesen Beitrag gehört: https://www.deutschlandfunkkultur.de/hartmut-rosa-mangel-uberfluss-100.html und möchte die Idee aufgreifen, dass Krisen offenbar das Potenzial haben, konservativ zu machen. Unter dem Druck eine Lösung finden zu müssen, greift der Mensch auf Routinen zurück. Extremsituationen erfordern den Überlebensmodus: also konzentriere ich mich auf mich selbst und wähle aus bekannten Optionen. Kreatives Überlegen und andere um Rat fragen und Bedürfnisse anderer empathisch wahrnehmen hat in diesem Modus keinen Platz. – Und das steht im Widerspruch zu dem sonst so gern verwendeten Bild von „Krise als Chance“. Der angenehm konstruktive und gebildete Dialog in diesem Beitrag möchte sich aber nicht davon abwenden und ergeht sich dann im theoretisch möglichen. Angenehm, ein schöner Besuch im Elfenbeinturm. Aber leider sehe ich in der realen Welt gerade die Überprüfung der Hypothese: ja, theoretisch sind beide Ausgänge plausibel beschreibbar, entweder macht Not erfinderisch und in Krisen steckt großes Potenzial zur Weiterentwicklung und „sich neu erfinden“ – oder sie lähmt eben die Kreativität und führt zu einem Hauen und Stechen im (gefühlten) Verteilungskampf. Was ich beobachte tendiert leider ganz klar zu letzterem. Damit ist der Bogen zum Anfang geschlagen.

Hier steh ich nun ich armer Tor und bin so ratlos wie zuvor: ich weiß auch (ja, ist mir bewusst, ich weiß nicht, ich glaube zu wissen…) wie man theoretisch alles besser machen könnte. Aber ebenso, wie die Klimaforschenden und andere, die die Welt gern besser machen würden, scheitere ich an den Mitmenschen, deren Verhalten und zugrundeliegende Denkmuster jeden Erfolg fruchtbarer / prosozialer /umweltverträglicher Veränderung im Keim ersticken. Stattdessen stehen die Zeichen auf nächstem Kalten Krieg und Besitzstandswahrung. Krise macht konservativ bis zur Selbstvernichtung. Die spinnen die Römer.

Doppelmoral

Mich müsste freuen, dass „die Weltgemeinschaft“ sich mal weitgehend einig ist. Und dass Sie einen Krieg verurteilt und das Grauen, das damit im Kriegsgebiet einhergeht – ebenso wie die diplomatischen Lügen und Ausflüchte des Verursachers und dessen Propaganda im Heimatland. Es ist großartig, dass das Notwendige gesagt wird. Endlich.

Ich komme aber nicht umhin, auch ungläubig den Kopf schief zu legen und die Augen zusammen zu kneifen. Moment, was habe ich da gehört?

Es soll sofort zur Anklage gebracht werden, dass ein anderes Land völkerrechtswidrig angegriffen wird? Natürlich soll es! Aber die EU und USA rufen das Russland zu. Die selben USA, die 2003 im Irak… Na gut, wenn es um die gute Sache geht, will ich mal nicht kleinlich sein. Was bringt auch dieses Aufrechnen. Saddam war ein Diktator. Auch wenn er erst von den USA aufgebaut wurde und sein Sturz das Leben im Land nicht besser gemacht hat…

Wenn Zivilisten getötet werden – und zwar als Folge der Taktik und der eingesetzten Mittel, nicht nur als „Ausrutscher“ – dann sind das Kriegsverbrechen, die vor Gericht gehören. Aber nur im Falle Russlands. Der „war on terror“ hat zwar ebenfalls nachweislich tausende Zivilisten das Leben gekostet, aber das ist ja etwas anderes. Sagen die zivilisierten Länder des Westens. Und die müssen es wissen. Kontroversen über juristische und moralische Abgründe des Drohnenkriegs hin oder her. Im Zweifel nennt man es halt hinterher einen Irrtum – obwohl die Argumente alle bekannt waren.

Und Leute, die im Land, das den Krieg führt, verhaftet werden, weil sie dagegen protestieren? Das ist ein ganz klares Zeichen für die Schuld des Unrechtsregimes! Wenn man als Landesverräter beschimpft wird, wenn man nicht zu den Streitkräften steht, ist das Repression. Und sollte es Kriegsverbrechen geben und man macht diese öffentlich, muss natürlich international gegen die Täter und Befehlsgeber verhandelt werden – und nicht etwa gegen die Whistleblower. Außer im Falle der USA. Die können weiterhin überall nach Völkerrecht rufen, aber selbst kommen sie mit Guantanamo und Abu Ghraib davon. Wer die Streitkräfte kritisiert wird als „unamerikanisch“ beschimpft. Chelsea Manning, Edward Snowden und Co. werden verfolgt. Den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag erkennen die USA nicht an und haben sogar schon Sanktionen gegen ihn verhängt, als er unliebsam ermitteln wollte. Aber jetzt bei Putins Krieg? Da sind Ermittlungen und moralische Empörung erwünscht. Ist ja auch schlimm.

Scharfe Sanktionen sind eine logische Konsequenz gegen Staaten, die die Zivilgesellschaft unterdrücken und in ihrer Nachbarschaft Krieg anzetteln. Ist doch klar. Außer bei Saudi-Arabien. Denen liefert die Bundesrepublik seit Jahren moderne Waffen. Mit Diktatoren redet man nur begleitet durch Druck, damit sie endlich einlenken. Außer vielleicht, wenn sie einem Flüchtlinge vom Hals halten. Also diese furchtbaren uneuropäischen Flüchtlinge.

Oder Geheimdienstoperationen gegen Überläufer: also dass Putin Menschen wie Skripal, Litwinienko oder Nawalny vergiften ließ, ist ein klarer Beleg dafür, dass er ein Verbrecher ist. Was aber ist aus den Ermittlungen geworden, dass die CIA womöglich Assange umbringen lassen wollte? Bestimmt nur Propaganda. Wie überhaupt immer, wenn einer mit dem Finger auf den anderen zeigt. Außer natürlich bei „Feinden des Westens“ – auf die muss man sogar mit dem Finger zeigen, weil das geht gar nicht. Politiker, die früher mal von Partnerschaft mit Russland und vertrauenswürdiger Diplomatie geträumt haben, sollen jetzt gefälligst Abbitte leisten für ihre Dummheit. Es kann nur eine Meinung zum Ukraine-Krieg geben. Aber nur weil das weitgehend wahr ist, heißt das nicht, dass es keine anderen Wahrheiten gibt, über die sich mal zu reden lohnt.

Auf einmal ist alles schwarz-weiß. Die Polen verteidigen die Werte der EU gegen die Autokraten. Die Ukrainer dürfen an unser Gewissen appellieren, wenn sie Beteiligung am Krieg fordern. Die NATO muss aufrüsten. Die Flüchtlinge sind plötzlich willkommen. Atomkraft und Frackinggas, das meilenweit per Schiff kommt, sind irgendwie doch vernünftig. Katar usw. sind Partner für die Zukunft. Die Berichterstattung bringt jeden Tag fünf Updates desselben Informationsgehalts und spiegelt das Schwarz-Weiß genauso wieder, wie es nunmal da ist – das ist aber keine Propaganda. Propaganda ist immer, was der andere sagt.

Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass die Welt doch keine bessere geworden ist, weil sich plötzlich alle einig sind. Dass die Wiederentdeckung einer „Verteidigung unserer Werte“ nicht plötzlich konsequent zur Anwendung gebracht wird (also Recht gesprochen ohne Ansehen der Person). Und – wie kann ich an sowas auch nur einen Gedanken verschwenden? – dass wir in den Staaten, die ihre Probleme haben mit westlichen Tiraden von Menschenrechten als Begründung unserer Politik, dass wir dort nicht gerade an Glaubwürdigkeit gewinnen. Aber um die Glaubwürdigkeit der Menschenrechte geht es ja auch nicht. Jetzt müssen wir erstmal das Böse besiegen. Bloss nicht zögern und rumkritteln.

konkrete Vorschläge und Abwägungen (Corona)

Was wünsche ich mir konkret im Umgang mit Corona für 2022 und danach?

  • Keine Grabenkämpfe führen – bringt nix (Vergangenes: Schwamm drüber)
  • Veranstaltungen /private Treffen wieder ohne Kontrolle zulassen
  • Maske tragen freiwillig oder wenn selbst krank
  • Schnelltests überall erhältlich, aber Eigenverantwortung (evtl. Pauschalbetrag für Arme zugeben)
  • Nachsteuern sobald sich etwas ändert! – bei tödlicheren Varianten oder so wissen jetzt alle, was zu tun ist
  • Impfungen und Behandlungsmethoden weiterentwickeln
  • Wissenschaft forschen lassen und – ohne Hektik – wenn es was neues gibt, hören was sie zu sagen hat
  • Krankenhäuser unterstützen – was letztlich mehr Pflegekräfte mit besseren Arbeitsbedingungen und Abkehr vom kapitalistischen Prinzip bedeutet
    Gesundheit ist keine Ware sondern Grundrecht, Krankenhäuser sind öffentliche Daseinsvorsorge und nicht Renditebringer. Details dazu sind Gegenstand ganzer Bücher.
  • Verhältnis RKI zu Regierung klären (was ist gewünschte Verflechtung, was ist fragwürdig, wer hat welche Befugnis)

Nochmal zu meinem „Sinneswandel“ bezüglich Corona-Maßnahmen: aktuell ist ein Eindämmen des Virus, also der Wunsch nach Seuchenfreiheit durch null Infektionen völlig utopisch, die aktuellen Maßnahmen ändern kaum etwas am Ausmaß der schweren Erkrankungen und da die Alternative zu bewältigen ist – also nicht einfach reihenweise Menschen sterben – ist das einfach die neue Balance einer Kosten-Nutzen-Abwägung vor dem realen Hintergrund der Machbarkeit. Die gleiche Abwägung sah halt vor einem Jahr noch anders aus: Delta war viel schlimmer, Grundimmunisierung weniger gegeben und „Augen-zu-und-durch“ noch halbwegs glaubwürdig als Motto der Einschränkungen. Aber wo derzeit der scherzhafte Satz gilt „Omikron ist das neue Impfen“… Wer bereits geimpft ist, kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit glimpflich davon und immunisiert sich weiter. Wer nicht geimpft ist, wird es damit – mit einem Risiko richtig krank zu werden, das er/sie selbst gewählt hat.

Was könnten wir sonst tun?

  • Null-Covid-Strategie – wie gesagt utopisch
  • Geimpften alles erlauben, Ungeimpften verbieten (Impfpflicht?)
  • nicht gerechtfertigt, da auch Geimpfte übertragen und sogar erkranken können (zumeist weniger schwer). Außerdem gilt das Argument nicht mehr, dass ich Rücksicht auf das Risiko der schweren Erkrankung aller nehmen muss, denn jeder hatte die Chance sich eine Meinung zu bilden und sich schützen zu lassen, wenn sie dann dennoch an der Beatmung oder im Sarg landen, war das ihre Entscheidung. Da (in aktueller Lage) nicht andere darunter leiden, weil deren Behandlung zum Systemkollaps führt, ist das ethisch ok, finde ich. Risikopatientinnen, die für ihre Schutzlosigkeit nichts können, leiden auch aktuell, ich glaube nicht, dass wir deren Lage deutlich verbessern können, indem wir Restaurants geschlossen halten oder Ungeimpfte unter Druck setzen. Auch das Aufschieben anderer Behandlungen ist langsam fragwürdig – war im Notfallmodus des ersten Jahres ok, aber nicht als Dauerzustand.

    Oder habe ich weitere, vielleicht viel bessere Optionen übersehen?

immer wieder Russland

Nun sage ich doch nochmal was zum Thema Russland. Vieles ließe sich übertragen, aber bleiben wir mal am Beispiel Ukraine-Konflikt. Eben weil die Nachrichten voll davon sind und es mir quasi als Wand ins Gesicht schlägt, dass hier schlichte Meinung postuliert oder gar Stimmung gemacht wird. So offensichtlich, wie es einem informierten Beobachter nur sein kann, wird einseitig dargestellt und tun sich Parallelen auf, zu Dingen, deren Wiederholung ich nicht zugeschaut haben will, als hätte ich nix gewusst.

Was meine ich konkret? Ich habe den Eindruck, dass hier Rhetorik verwendet wird, wie sie häufig vor einem Krieg zum Einsatz kommt. Die Zeitungen titeln „USA warnt Russland“ oder „Russland droht mit…“ und im darunter stehenden Text, der stark eingedampft einen Konflikt nachzeichnen soll, wird die Aneinanderreihung von Aussagen in keiner Weise der verzwickten Realität gerecht. Und wenn bereits der öffentliche Diskurs in Form der Medien-Echokammer derart eingeschränkt ist, dass als logische Konsequenz (scheinbar!) nur noch der offene Konflikt bleibt – mit militärischen oder mindestens abschottenden, sich gegenseitig schadenden Mitteln (dazu zähle ich auch Propaganda und Wirtschaftssanktionen) – dann ahne ich nix gutes.

Was mich daran besonders ärgert – die geneigte Leserin kennt es bereits von anderen Beiträgen hier – ist, dass wir für dumm verkauft werden. Die Adressaten der Medienbeiträge und die Wähler*innen, welche zum Zuschauen degradiert sind, weil es gar keinen demokratischen Streit um unterschiedliche Möglichkeiten gibt, werden so gut es geht rausgehalten und mit Unfug abgespeist.

So auch wenn pseudo-aufklärend getitel wird „was will Putin in der Ukraine?“ dann stellt sich mir die Frage: Wieso kommt kein*e Journalist*in auf die Frage „was will die EU in der Ukraine?“ – die Antworten dürften in beiden Fällen (!) sowohl legitime Ansichten als auch eher fragwürdige Eigeninteressen zutage fördern. Und dass wir diesen Schlagzeilen dominierenden Konflikt jetzt nicht hätten, wenn es keine Eigeninteressen (über Prinzipien des Völkerrechts hinaus) gäbe, dürfte ja selbst naiven Gemütern dämmern. Wo verteidigt die EU denn ähnlich vehement das Völkerrecht – in all diesen vielen himmelschreienden Fällen – wenn es da nix zu holen gibt?

mehr Beispiele

Der historische Blick auf die Ukraine wird auf eine Formel verkürzt: Ehemalige Sowjet-Republik (also gegen ihren Willen von Russland = Sowjetunion geschluckt – anders kann es bei keiner Sowjet-Republik gewesen sein), dann unabhängig geworden (also eine ganz normale souveräne Nation) und jetzt soll ihnen dieser Status erneut streitig gemacht werden – pfui!
Das Problem ist: das stimmt schlichtweg nicht. Die Ukraine war seit Bestehen ein Konglomerat, geprägt durch Wanderungsbewegung, Grenzverschiebung und Einflussnahme durch benachbarte Reiche. Die Kiewer Rus, die ihren Beginn markiert, ist gleichzeitig Gründungsmythos des russischen Zarenreichs (und dieser wird heute in Russland wieder verstärkt gepflegt). Die Krim war immer multiethnisch. Die Verhältnisse im Rest der heutigen Ukraine nie lange stabil und es zeigt sich, wie in so vielen anderen Regionen und Epochen, dass der Gedanke des Nationalstaats verheerend sein kann. Denn da wo sein Ideal einer Einheit aus Volk, Kultur und Staatsgebiet nicht gegeben ist, versuchen Nationalisten sie herzustellen. Wenn aber eine Volksgruppe nicht nur auf dem politischen Territorium der Nation lebt, sondern auch in benachbarten Gebieten, die eine andere Gruppe kontrolliert? Wenn eine andere Volksgruppe innerhalb des Staatsgebietes, das man selber kontrolliert, lebt? Wenn die Kultur gar nicht abgrenzbar ist? Wenn die politische Macht sich nicht zentralisieren lässt, weil es Geografie oder tradierter Herrschaftsanspruch durch Erbmonarchie nicht zulassen? Genau: Bürgerkrieg, Rassismus, Terror usw. Dieses Muster lässt sich überall erkennen, wird aber häufig nicht auf ihre gemeinsame Ursache zurückgeführt: die verhängnisvolle Idee vom Nationalstaat.

In der Ukraine ist bzw. war all das gegeben. Nachzulesen bspw. hier: https://www.bpb.de/izpb/209719/geschichte-der-ukraine-im-ueberblick

das schlechte Vorbild

Was weiterhin zeigt, dass wir entweder schlechten Journalismus oder irgendeine Form von Propaganda (vielleicht auch einfach aus unreflektierter Parteilichkeit) haben:
Russland werden Handlungsweisen vorgeworfen, die es eins-zu-eins vom Westen abgeschaut hat. Kürzlich gelesen „London wirft Russland politische Einflussnahme vor“ – das würden EU und USA natürlich nie machen! In einem anderen Land versuchen, Einfluss auszuüben, Bündnisse schmieden, Wirtschaftsbeziehungen eingehen (die ja nicht immer einfach nur offener Marktplatz heißen)… Grotesk, das als Vorwurf zu formulieren, oder?!
Oder mit Militär einrücken um „eigene Staatsbürger zu schützen“ – Gott bewahre, dass Russland in der Ukraine auf so eine Argumentation zurückgreift – da fällt dem Pentagon-Mitarbeiter ja vor Schreck der Panamahut vom Kopf… Achso… Beispiel Panama und US-Marines… Äh ja…
Oder dass Putin ausgerechnet dort Gebiete kontrollieren will, wo Bodenschätze liegen und sogar mit Militär droht, um seinen Zugriff zu sichern. Also sowas würden westliche Staaten natürlich niie machen!
Oder False Flag Operations in einer Revolutionssituation, wie damals auf dem Maidan 2014. Die USA haben ja noch nie „in ihrem Hinterhof“ eingegriffen, um mit geheimdienstlichen Aktionen politische Verhältnisse zu ändern. Wenn jetzt Putin beansprucht, die Ukraine (siehe gemeinsame Geschichte oben) als seinen Hinterhof zu behandeln und möglicherweise sogar verdeckte Operationen da durchführt… Also sowas geht natürlich gar nicht!
Und überhaupt diese Missachtung des Völkerrechts, z.B. als Feinde eingestufte Menschen in anderen Ländern, wohin diese sich extra geflüchtet haben, anzugreifen – das geht nun wirklich gar nicht! Wenn Putin Doppelagenten in London vergiften und Terroristen in Berlin erschießen lässt – ein Unding! Wenn die USA Leute, die sie als Islamisten verdächtigen, verschleppen und außerhalb ihres Staatsgebiets in Folterkeller sperren – das kann man ja verstehen. Oder Snowden oder Assange oder so…
Und die russische Wagner-Gruppe, also wenn ein Staat mit Söldnern operiert, damit es für „Fehlverhalten“ nicht haftbar ist oder den Einsatz in bestimmten Gebieten oder zu bestimmten Zwecken einfach abstreiten kann, was am Ende die Genfer Konventionen aushöhlt – was für eine Unsitte! Blöd nur, dass es die USA mit Blackwater im Irak ab 2003 vorgemacht haben. Hat noch jemand ein paar schöne Beispiele? Da schreibe ich mich glatt in Rage.

Was mich zum nächsten Beispiel der Bigotterie bringt, dem ich aber einen gewissen Dreh abgewinnen kann: wenn Deutschland jetzt (wie ich finde zurecht) syrische Folterknechte und Diktaturhelfer vor Gericht stellt, findet das im wesentlichen ein positives Medienecho. Und es wird vom Weltrechtsprinzip geschrieben – dass also Taten, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden, von jedem Land, wo sich die Täter oder Opfer befinden, verfolgt und zur Anklage gebracht werden können. Super Sache das! Dann können wir ja jetzt die ganzen CIA-Agenten (oder welchem Akronym auch immer sie zugerechnet wurden) anklagen, die z.B. damals Murat Kurnaz entführt haben.

Klarstellung

Ich möchte hier nicht als Putin-Freund auftreten, bin ich nicht. Ich wünsche mir einfach eine aufgeklärte und differenzierte Öffentlichkeit. Zumindest da, wo demokratische Öffentlichkeit geschätzt wird, sollte sie auch Praxis sein. Wenn der Westen – zurecht! – Russland und China vorwirft, demokratische Öffentlichkeit als Störenfried zu betrachten und zu verhindern (präventiv wie repressiv), dann ergibt sich daraus auch die Verantwortung, selber ein besseres Vorbild zu sein. Und ich habe klar den Eindruck, dass dies bezüglich des Ukraine-Konflikts (aber auch anderer Beispiele) stark vernachlässigt wird.

Umgang mit Corona – eine Chronologie

Ich war von Anfang an für Solidarität, vernünftige Regeln und deren Einhaltung. Am Anfang hieß das für mich:

  • Kontakte reduzieren
  • Abstand halten
    Denn denken wir uns nochmal rein: Masken waren noch nicht sehr verbreitet, von der Impfung gar nicht zu reden. Dann kamen die beiden hinzu:
  • Maske tragen wo viele Leute sind bzw. in Innenräumen
  • Impfen gehen seit das möglich war ohne sich „vorzudrängeln“

Warum hielt ich das für gesetzt?

  • Wir wussten noch nicht viel über das Virus – lieber Vorsicht als Nachsicht
  • Was wir recht schnell wussten: es kann sich jede*r anstecken, weil noch niemand natürliche Abwehr hat
  • Wenn sich jede*r anstecken kann und das dann exponentiell steigt, reicht es aus, dass nur 1% Behandlung im Krankenhaus braucht – also kein Killervirus oder so – aber selbst dann wäre schnell Gesundheitsversorgung und evtl. öffentliche Ordnung zusammengebrochen
  • Ein bisschen Rückzug und Innehalten ist nicht zuviel verlangt, wer vor oben genanntem Hintergrund dazu nicht bereit ist, muss echte Defizite haben (natürlich gibt es bestimmt Gründe, aber bei der nörgelnden Masse sah ich das nicht gegeben und die haben mich wirklich geärgert)
  • Es waren Notfallmaßnahmen auf Zeit (Am Anfang war ja sogar die Hoffnung das wäre nur, bis in weiten Teilen der Welt keine Ansteckungen mehr sind und dann vorbei)

Dann war langsam jede Menge Wissen verteilt:

  • wissenschaftliche Erkenntnisse zum Virus
  • Wir hatten Impfstoffe
  • Jede*r kannte die Verhaltensregeln und es war normal z.B. Maske zu tragen und keine Hände zu schütteln
  • Politik hatte einiges ausprobiert, Berater an ihrer Seite usw.

Damit änderte sich langsam etwas:

  • Der Schutz der Verletzlichsten war besser
  • Wer sich impfen lassen wollte, konnte diesen Schutz haben
  • Die Virus-Apokalypse nicht mehr zu erwarten
  • Nun hätten Regeln mit mehr Augenmaß und weniger persönliche Einschränkung greifen können

Leider gab es jede Menge Hickhack, schlechte Kommunikation und die Eigenlogik der Politik (nur für Gutes/Beliebtes verantwortlich sein wollen – alles schlechte waren die anderen; sich noch schön die Taschen füllen; Impfstoffe so empfehlen wie man sie eingekauft hat und nicht wie medizinisch empfohlen usw.). Das war dann nach über einem Jahr schon nervig, aber noch kein Grund alles hinzuschmeißen.

An der Stelle mal eine Einschätzung zu den „Impfgegnern“, „Corona-Leugnern“ und sonstigen aus diesem Contra-Lager: Dass bereits von Anfang an Verschwörungsmythen erzählt wurden, dass einige Leute bereits gleich zu Beginn, wo noch niemand was genaues über Corona wusste, ganz genau wussten, dass sie sich an keine Regeln halten müssen und dass sehr schnell die üblichen Demokratiefeinde bzw. Ablehnenden dieses Staates mitgemischt haben, zeigt für mich deutlich, dass es nicht um einen Beitrag zur Pandemiebewältigung (nichtmal um sachliche Kritik an der Einschätzung als Pandemie) ging.

Und wie sieht es aktuell aus? Nicht zufällig habe ich die Vorgeschichte nochmal nachgezeichnet. Denn aktuell laufen die Strömungen für mich auseinander und ich stehe zwischen den Stühlen. Mit den „Gegnern der Corona-Maßnahmen“ möchte ich mich eigentlich nicht vereinen, weil ich wie gesagt in deren Genese nix erkenne, was ich auch nur ansatzweise unterstützen will. Andererseits bin ich auch kein Freund der Pharmaindustrie. Und kein Freund der Einschränkungen aus Prinzip. So sinnvoll ich das Impfen fand, als es möglich wurde: eine Impfpflicht sehe ich kritisch. Schon allein, weil man damit rückwirkend die Schwurbler und Schreihälse bestätigt.

Wie ist die Lage denn jetzt, Februar 2022, mit Omikron usw.?

  • Krankenhäuser (vor allem Intensivstationen) laufen nicht voller mit drastischen Inzidenzen
  • Impfung schützt nicht vor Ansteckung und Weitergabe
  • Es ist nicht zu verhindern, dass Corona in der Menschheit zirkuliert
  • Alle werden sich früher oder später anstecken
  • Es gab bereits zwei Jahre Ausnahmezustand mit viel Hü-Hott
  • Die Nebenwirkungen der Corona-Bekämpfung übersteigen langsam den Nutzen

Was schließe ich daraus?

  • Wir sollten nüchtern die Realitäten abwägen (was ich im Ausnahmezustand zu Beginn ebenso empfand und da weitgehend gegeben sah!)
  • Aus Prinzip an der entstandenen Spaltung in „Team Vorsicht“ und „Corona ignorieren“ festzuhalten scheint sich so zu ergeben, ist aber blöd
  • politische Lager und Spielchen hin oder her, wir brauchen eine Exit-Strategie und einen Weg jenseits Inzidenzen und Eindämmung

Können wir jetzt also bitte wieder über alle Optionen und Zusammenhänge sprechen, ohne die eingeübten Worthülsen zu nutzen, die entweder als „Team Vorsicht“ oder „Coronaleugner“ identifizieren? Den anderen vorzuwerfen, wo sie grundsätzlich falsch liegen, hat noch nie den Nachweis ersetzt, wo/wie/warum man selber richtig liegt. Danke.

(konkrete Vorschläge hier)

Neue Rechte und Corona-Gegner

Natürlich ist der Begriff „Corona-Gegner“ irgendwie unscharf und streng genommen Humbug (was dann ja wieder ausgesprochen treffend ist). Aber ich bleibe einfach mal dabei, weil ja im Wesentlichen klar ist, wer damit gemeint ist. Die Tatsache, dass sich Menschen, die sich in der Pandemie lieber an Verschwörungsmythen wenden, als sich der unangenehm vertrackten Realität zu stellen, massenweise von rechts vereinnahmen lassen, ist der eigentliche Grund, wieso ich diesen Artikel für wichtig genug hielt, ihn zu schreiben und hier zu veröffentlichen. Denn diese neue „Allianz aus Versehen“ ist beängstigend. Wie schon erwähnt deuten die Arte-Dokus sehr gut auf die Strategien und Arbeiten im Hintergrund hin, die die Entwicklung für sich nutzen wollen – und alles andere als zufällig aussehen lassen. Das Internet und die Pandemie sind beste Voraussetzungen, um zu spalten und Narrative von Notwehr in die Köpfe zu bringen. Und da es ja bereits mit den Verschiebungen in der Geo-Politik und der Klimakrise genug Themen gab, die zu Verunsicherung führen können, ist es eine gute Zeit für zynische Akteure aus dem rechten Spektrum (was ja für beide Dokus gilt). Sie nutzen die Lage für sich. Sie müssen weder von einem Ideal überzeugen, dem sich Menschen anschließen, noch müssen sie konsistent gegen etwas argumentieren. Ihnen reicht es, die Verunsicherung zu einer Zersplitterung auszubauen und die mediale Aufmerksamkeit für groteske Narrative zu nutzen. Das groteskeste, was ich in diesem Kontext beobachtet habe und erst einmal verstehen musste, ist die Verharmlosung des Dritten Reichs. Man möchte meinen, dass überzeugte Nazis dieses verteidigen oder glorifizieren möchten. Das allerdings fällt sofort auf und wird zu Recht ausgegrenzt und verurteilt. Wenn Menschen des rechten Spektrums aber plötzlich überall „Meinungsdiktatur“, „Impf-Terror“ und „Machtergreifung“ wittern, dann ist das paradox. Seit wann finden Nazis Diktaturen schlecht und verteidigen unsere staatsbürgerlichen Freiheiten? Ganz einfach: tun sie nicht. Sie haben nur erkannt, dass sich Grenzen zwischen Recht und Unrecht verwischen lassen, wenn ich die Kritik an jenen, die sich nicht impfen lassen wollen, mit Pogromen und Ausgrenzung von Juden gleichsetze. Auf einmal stellen sich Verteidiger nationalistisch-völkischer Ideale selbst als Juden dar. Noch immer, auch wenn ich es sachlich zu verstehen beginne, schüttelt es mich – einerseits schüttel ich ungläubig den Kopf und andererseits schüttelt mich der Ekel. Das meine ich mit Zynismus. Wie offen unaufrichtig kann man eigentlich sein? Und trotzdem noch Anhänger finden „die einem glauben“? Ein Irrsinn! So irre, dass vermutlich viele Corona-Schwurbler noch gar nicht gemerkt haben, in welcher Suppe sie schwimmen.

Was soll das Ganze jetzt bringen? Junge Menschen, die ihre Identität und ihr politisches Verständnis in dieser Zeit erst entwickeln, werden reihenweise auf allen online-Kanälen mit kruden Ansichten bombardiert. Ich würde mal behaupten, dieses Gewirr ist schwieriger als Beeinflussung zu enttarnen und zu hinterfragen, als die Beeinflussung, die wir ja auch hatten. Dass Deutschland geläutert und der Welt wohlgesonnen ist, dass die USA unser Freund sind und der Kapitalismus ein Heilsbringer, dass es in der BRD keine Korruption gibt und eigentlich alles super läuft – außer irgendwelche radikalen Spinner quatschen dazwischen – das wurde mehr oder weniger so präsentiert. In diesem Sinne natürlich, dass die Ossis froh sein sollten, wie durch ein Wunder ihre Freiheit erlangt und mit freundlicher Hilfestellung in dieser BRD willkommen geheißen worden zu sein… Das war auch Beeinflussung, aber das ließ sich doch relativ gut durchschauen und war möglicherweise von gutem Willen getragen oder zumindest nicht total im Widerspruch zu einem solchen. Die für-queren Ansichten, die Verschwörungsschwurbler und Neu-Rechte hier in die Welt setzen (vermutlich, die Verwirrung unterstützend, ergänzt durch alle möglichen Trolle, denen der Niedergang westlicher Gesellschaften gelegen kommt), dürften schwieriger zu verstehen sein. Junge Menschen also, die sich in dieser wirren Zeit selbst politisch sozialisieren, werden nun gezielt dieser Relativierung von Begriffen wie Diktatur oder Zensur ausgesetzt.

Im Einzelnen sind die Thesen ja noch gut widerlegbar, vor allem, wenn man ihre Stoßrichtung erst einmal erkannt hat. Also wenn da einer mit einem Schild „Meinungsdiktatur“ hinter ranghohen Politikern steht und von Reportern vor laufender Kamera gefragt wird, wie er das meint, entbehrt das nicht einer gewissen Komik. Soll er doch mal in einer echten Diktatur versuchen – zum Beispiel beim Parteitag der KP Chinas oder bei einer Inszenierung von Erdogan mit einem Schild „Diktatur“ auf live-Bilder im Fernsehen zu kommen, direkt neben amtierenden Ministern und Staatschefs. Dann würde ihm der Unterschied möglicherweise bewusst. Aber in der Gesamtheit des Störfeuers ist es schon einigermaßen schwierig, die Orientierung zu behalten. Ob sich für die nächsten Generationen halten lässt, was wir als Lehren aus der Sprache der Nazis gelernt haben? Ob sich die Brandmauer halten wird, die zur Holocaust-Leugnung und dem falsch verstandenem Zensur-Vorwurf (*) errichtet wurde? Das ist derzeit offen. Und darin liegt wohl das wahre Ziel dieses auf den ersten Blick völligen Unfugs von gelben Judensternen mit der Aufschrift „ungeimpft“. Wenn Nazis und ihr vergiftendes Vokabular nicht mehr als solches erkennbar, aber trotzdem allgegenwärtig sind, haben sie deutlich bessere Chancen auf ein Comeback als noch vor wenigen Jahren denkbar war. Es ist schon erstaunlich mit welcher dreisten Konsequenz in den letzten Monaten alles, was man normalerweise rechten Gruppierungen vorwirft – oder nur als intimer Kenner der Geschichte aus dem Dritten Reich kennt – plötzlich Journalisten, Demokraten und Linken vorgeworfen wird. Völlig unabhängig von den Fakten wird das Vokabular herumgedreht und damit verschlissen, denn ab jetzt bedeutet es nichts mehr, wenn jemand „Machtergreifung“ oder „KZ“ oder „menschenverachtend“ sagt. Ab jetzt muss man immer erstmal schauen, wer und in welchem Kontext das sagt, um zu wissen, ob es in seiner eigentlichen Bedeutung verwendet wird oder mit genau gegenteiliger Intention. Das ist kaum zu leisten, wenn man es nicht als sportliche Herausforderung begreift. Ob es ein Zufall ist, dass diese Offensive jetzt kommt, wo es kaum noch Überlebende gibt, die die Sprache des Dritten Reiches selbst erlebt haben?

* Das ist ein weiteres Beispiel: Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird (absichtlich?) verwechselt mit einem Recht darauf, überall gehört zu werden und unwidersprochen zu bleiben. Denn oft schreien ja Teilnehmer von Corona-Demos laut in die Gegend (im übertragenen Sinne auch online) und beschweren sich dann, wenn man das nicht weitergeben und zitieren will, wenn man dem keine Bühne geben will oder es als Vorlage zum Widerspruch nimmt, dass sie zensiert und mundtot gemacht würden. Aber so ist es nun mal nicht. Ich könnte ja nicht darüber schreiben, ich würde von ihrer Existenz gar nichts wissen, wenn sie wirklich derart zensiert würden. Sie durften Ihre Meinung frei äußern und andere dürfen frei entscheiden, ob sie sich das anhören, das weitergeben oder dem widersprechen wollen. Vorher ging es noch um die Äußerungen von Rechtsradikalen, die als Meinung getarnt waren oder deren Grenzen austesteten, obwohl sie als Verleumdung, Diffamierung und Hetze verwandt wurden. Nun geht es schon um den Anspruch, dafür eine Bühne zu bekommen.

Erfahrungen

Ich habe in letzter Zeit über eine Bildungsmaßnahme mit Menschen bunt gewürfelten Hintergrunds zu tun. So komme ich mal raus aus meiner Filterblase 😉 Nun kann es natürlich sein, dass ich meine Wertungen und was ich so an Quellen höre/sehe/lese einfach übertrage und sofort kategorisiere, womit ich es zu tun habe. Dann wäre mit Vorsicht zu genießen, was ich an Erkenntnissen über Menschen gewinne – da ich eigentlich gar keine Erkenntnis gewönne sondern nur bestätigte. Das vorausgeschickt: ich glaube, genau die Dinge zu erkennen, die in Talk Shows und mainstreamigen bis links-intellektuellen Medien diskutiert werden. Nämlich, dass „normale“ Menschen in meinem Umfeld (und das ließe sich sicher auf deutlich mehr Bewohner des Planeten übertragen), einfach bestimmte Quellen haben, aus denen sie Meinungen beziehen und sich selbst dafür gut finden, dass sie Meinungen haben, die nicht immer mit allem anderen übereinstimmen. Soweit so logisch und universell. Nur hinterfragen sie eben nicht den Ursprung dieser Quellen, sondern nur alles und jeden, auf den diese Quellen mit dem Finger zeigen „die da oben“ halt – oder welcher Sündenbock auch immer gerade beliebt ist. Und sie stören sich auch nicht an Widersprüchen, da sie eben anders als mein Milieu nicht wissenschaftlich geschult sind. Alles, was clever klingt, weil es vorgibt über Mainstream-Wissen hinaus zu gehen. Und dann noch zum eigenen Gefühl und der eigenen Erfahrung passt (z.B. dass es Eliten gibt, die mein Leben nicht verstehen und irgendwie strukturell immer besser davon kommen als ich selbst). Das wird als Wahrheit akzeptiert. Bezüge dieser Versatzstücke untereinander werden nicht geprüft – ob sich diese Wahrheiten, an die ich alle glaube, vielleicht widersprechen und gegenseitig ausschließen – wird gar nicht erst wahrgenommen oder zumindest nicht ernstgenommen. Ein Schulterzucken und sinngemäß: „na is doch eh alles so kompliziert heutzutage, dass ich das gar nicht überprüfen kann, auch was du mir jetzt erzählen willst, kann ich nicht prüfen – passt eh nie alles zusammen – aber xy überzeugt mich halt“. Teilweise werde ich als jemand wahrgenommen, der Wissenschaft kapiert, und dann wird mir empfohlen „schau doch mal das Video von xy, der diesen ganzen Corona-Aussagen nachgegangen ist und mit Zahlen und Grafiken und so das richtig auseinandernimmt – der sagt voll das kann doch gar nicht stimmen“. Also etwas wirkt wissenschaftlich, weil jemand sich auf wissenschaftliche Quellen bezieht, der präsentiert dann Zahlen und Grafiken – das muss also der Wissenschaft ebenbürtig sein. Und der sagt, was ich (durch meine Filterblase) glaube, also siehste mal, hab ich doch recht! Die Kapazität fehlt, die wissenschaftlichen Methoden, den Gültigkeitsbereich der Aussage bzw. logische Widersprüche zu prüfen und die Güte von Quellen einzuschätzen. Außerdem natürlich Lust und Zeit, mal wirklich eine Sache zu analysieren – ich habe dann versucht in dem Gespräch die Frage nach Gefährlichkeit von Corona und Wirksamkeit der Impfung mal systematisch durchzugehen – dafür fehlte jegliche Geduld, das Thema wurde gewechselt. Nun werde ich also als jemand wahrgenommen, der gebildet ist (studiert hat) und sich für Themen interessiert – und doch reicht das nicht aus, mir mal lange genug zuzuhören, bis ich meine Gegenmeinung darlegen kann. Kognitive Dissonanz mit einer Leichtigkeit übergebügelt, dass ich quasi mit offenem Mund stehen bleibe. Wenn ich diesen verschiedenen Meinungen aus verschiedenen Milieus so zuhöre – abgeleitet aus dem Leben einer Person, kann ich die Leute ja gar nicht mal unsympathisch und mir unterlegen empfinden – aber dennoch ist es absurd, dass die aus ihrem gefühlten Wissen eine Haltung zur Welt ableiten, die ich in ihren Konsequenzen als Selbstzerstörung empfinde.

Oder so lapidare Aussagen – da wurde z.B. gelästert, dass jetzt, wo die Inzidenzen wieder steigen, darüber nachgedacht wird, die kostenlosen Tests wieder einzuführen – die hätte man aus Sicht der Ungeimpften hier natürlich nie einstellen sollen und die lachen darüber, dass sie jetzt vielleicht wieder kommen, wie dämlich „die“ doch sind. Inzwischen ging mir durch den Kopf, dass man ja eigentlich vorhatte, die Leute zur Impfung zu bewegen, wenn der Test nicht mehr reicht, um überall rein zu kommen oder der Test zumindest jedes Mal extra kostet. Obwohl ich sonst (schon um mir das Leben hier nicht unnötig schwer zu machen) wenig kontra gebe, habe ich also gesagt „oder ihr geht euch halt mal impfen lassen“ – Reaktion „na klar. Siehste doch, was das hilft“ (in Anspielung an den Ausgangspunkt des Gesprächs, nämlich die steigende Inzidenz). Da kann ich nur mit den Augen rollen. Natürlich hätte ich jetzt darauf hinweisen können, dass die Inzidenz hier in Sachsen besonders hoch ist, wo die Impfquote besonders niedrig ist. Und dass die Inzidenz erstmal davon spricht, wieviele sich infizieren, was aber nicht so dramatisch wäre, wenn durch Impfung deutlich weniger schwere Verläufe dabei wären. Aber wie gesagt will ich mir das Leben hier nicht schwer machen und kann leider auch nicht glauben, dass etwas anderes als meine Isolation oder gar Anfeindung dabei raus käme. Da sind wir bei der Zersplitterung. Selbst wenn ich hier eigentlich keinen schlechten Stand habe, mit Leuten mal ein Schwätzchen halte und von manchen als intelligenter Mensch wahrgenommen werde – die Filterblasen bringe ich nicht zum Platzen. Und dann sind wir auch beim nächsten Punkt: dem was in den Filterblasen passiert. Wenn man die Doku „Königsmacher“ zur Polit-PR zur Grundlage nimmt und mit der Debatte über Twitter und Facebook bei den Trump-Anhängern bzw. der Kritik von Facebook-Insidern an deren Algorithmen und Geschäftsmodell abgleicht… Tja, da kann ich nicht mehr glauben, dass rein zufällig spaltende Inhalte solche Blasen bilden und bespielen. Da könnten Absichten dahinterstecken. Und diese Leute hier, die sich nicht impfen lassen wollen, bundesdeutsche Politik im Wesentlichen ablehnen und verunglimpfen und selbst keinerlei realistische Idee haben, was verbessert werden müsste und was sie stattdessen wollen – die nutzen alle Facebook! Und ich aus Überzeugung schon lange nicht mehr.

Übrigens passt diese Problematik der Zersplitterung und des Mangels an konstruktiv-realistischen Alternativen genau zu meinem Ansinnen hinter dem Titel Silberstreif.

Zersplitterung

Es kommen Informationen und Beobachtungen in meinem Kopf zusammen, die ein Bild zeichnen das einem Angst machen könnte. Ich reagiere derzeit noch eher mit ungläubigem Staunen und einer gewissen Häme über die Menschheit, die schon so viel verbockt hat und sich auch das irgendwie selbst eingebrockt hat. Mit großer Macht kommt halt große Verantwortung. Und das bekommen wir nach wie vor nicht hin.

Es geht um folgende Punkte: mmh, eigentlich um einen Punkt. Zersplitterung. Teilweise unbeabsichtigt und teilweise aus Lust an der Zerstörung oder dem „teile und herrsche“-Kalkül. Jedenfalls ist diese Zersplitterung überall zu sehen.

Ich habe zwei Dokus von Arte gesehen, in der einen geht es um eine besonders perfide – und offenbar längst zum neuen Standard erhobene – Form der politischen PR. Der Beitrag heißt „Königsmacher. Mit den Mitteln der Werbung.“ In der anderen geht es um die Tradition der sogenannten Neuen Rechten seit dem Ende des zweiten Weltkriegs bis heute. Wobei Deutschland und Frankreich sich in erstaunlichem Ideen-Austausch befinden. Die Strategien und die politischen Gruppen, die sie anwenden, überschneiden sich durchaus: Einerseits die, die macchiavellistisch Polit-PR machen, und andererseits die Neue Rechte, die ihr Narrativ in die Gesellschaft sickern lassen will.

Und nun habe ich diese Schablone auf meine Erfahrungen gelegt, die ich mache mit Corona-Skeptikern, Impfmuffeln und Menschen, die in unsicheren Zeiten einfach per se alles, was sie als Herrschaft empfinden oder nicht im Alltag erleben können, anzweifeln. Und das sind hier im Osten Deutschlands besonders viele (was erklärbar wäre). Da wo Rechte und Corona-Gegner zusammenfließen, wird es besonders beängstigend.

Folgendes Bild ergibt sich: Es sind bereits weite Teile der Gesellschaft aufgehetzt, der gemeinsame Boden schwindet, die Zersplitterung schreitet voran. Viel wurde auch schon gesagt und wird seither wieder und wieder belegt über den Effekt von Filterblasen in Facebook, Chat-Gruppen, über Googles Algorithmen… Dazu noch Trolle und Medienakteure im Auftrag von Geheimdiensten oder sogar Wahlkampfteams von Trump bis Orban. Auch der Ausspruch „Orwells 1984 ist eine Warnung, keine Anleitung gewesen“ stammt weder von mir, noch ist er aus den letzten zwei Jahren – aber ich kann nur wieder und wieder zustimmend nicken.

Nun weiß ich als Soziologe, dass Gesellschaften schon immer Milieus (oder Klassen oder gar Kasten) mit unterschiedlichen Lebenswelten hatten. Und darin lag schon immer Konfliktpotential. Und es ist immer ein schmaler Grad von einem Zustand, in dem es noch genug Kohäsion gibt, um als eine Gesellschaft zu funktionieren – bis zu dem Zustand, wo es keine geteilten Vorstellungen von der Welt mehr gibt, in dem es gegenüber Menschen, die man nicht persönlich kennt, keinerlei Vertrauen mehr gibt. Und wenn das Vertrauen so weit weg ist, dass ich nicht weiß, wie mein Gegenüber sich verhalten wird, ist die Zersplitterung perfekt. Wenn ich mich nicht darauf verlassen kann, dass gewisse Grundwerte geteilt werden, dass es eine Basis gibt, auf der Missverständnisse und Interessenkonflikte ausgehandelt werden können, ohne dass es sich um bloßes Faustrecht handelt, dann wird Kooperation nahezu unmöglich. Zumindest als komplexe Gesellschaft. Diese Fragestellung fasziniert die Menschen seit jeher. Nicht umsonst werden Geschichten über den Zusammenbruch von Ordnung wieder und wieder erzählt.

Gedanken zur Geopolitik

Dieses Feld ist für mich persönlich ziemlich spannungsgeladen, da ich eigentlich mit dem Pazifismus sympathisiere. Dennoch denke ich manchmal als Realist. Und aktuell beobachte ich leider eine Dynamik auf diesem Planeten, die nicht viel Raum für Träume von Harmonie und allseitigem Wohlwollen lässt. Das wäre:
China (Beziehung aus Geschichte, Kultur und aktueller Lage)
Deutschland (Bundeswehr, Außenpolitik)
Europa (politische Lage in EU und geopolitische Situation)
NATO (Kritik Soll- & Ist-Zustand, Bezug Geschichte)
Russland, USA usw. (kurzer Kommentar, Länder tauchen verteilt im Text auf)
Auflösung der Widersprüche (Grundzüge einer gewünschten Richtung)

China.
Fakten: Unter Xi Jinping wird China zunehmend auf Nationalismus getrimmt. Es gab kürzlich erhellende Dokus (Arte) über seinen Weg zur Macht und seine Marschroute im Inneren der KP. Daraus geht klar hervor, dass er entschlossen ist, diesen Weg zu Ende zu gehen. Also Personenkult, mehr Zensur, mehr Propaganda, Ausnutzung digitaler Möglichkeiten, mehr Anstacheln nationalistischer Akteure im Inneren, Zügel in allen Bereichen wieder anziehen (die KP entscheidet über große Unternehmen in China, wer in Ungnade fällt, wird gestürzt und mundtot gemacht, soziale Medien überwachen wer aus der Reihe tanzt etc.), Ausbau militärischer Mittel über das konventionelle Heer hinaus, eigenes Raumfahrtprogramm statt Kooperation usw. usw.
Einordnung: Die Chinesen haben aus der Geschichte gelernt. Sie bleiben aber ihren alten Werten aus den Kaiserreichen treu. Für vieles, was das antike/mittelalterliche China ausgemacht hat, habe ich großen Respekt. Leider ist die Kombination für die neue Ära dennoch kein gutes Zeichen. In China galt nämlich immer Stabilität und Wohlergehen im Inneren als Top-Priorität. Dabei setzten die Kaiser oder gleich deren Beamte (die Zeitweise mehr Kontrolle als einzelne Kaiser hatten) auf Wissen statt auf (religiöse) Ideologie und offen ausgetragene Konkurrenz – wie es zur gleichen Zeit im Westen der Fall war. So erklärt sich, dass China der Welt technologisch weit voraus war und trotzdem nicht das Bedürfnis hatte, andere einzunehmen und zu bekehren. Allerdings bedingte diese Priorisierung auch, dass eben wirklich jedes Mittel recht war, um Unruhe im Inneren zu unterbinden und langfristige Planbarkeit zu sichern – die den Wohlstand herstellen sollte. In China scheint immer noch ein Konsens zu herrschen, dass dies der beste Weg ist (sozusagen nicht der Königsweg, sondern der Kaiserweg), um den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Zahl zu erreichen. (Das klingt auch schön in den streitenden Positionen bei „Die drei Sonnen“ von Liu Cixin an.) Insofern ist das Kopfschütteln gegenüber der westlichen Forderung nach freier Meinungsäußerung, Demokratie usw. verständlich. Wenn Stabilität im Reich der Mitte ebenfalls aus dessen Mitte und vom Sohn des Himmels kommt (eine zentrale Ordnungsmacht steckt quasi in den politisch-kulturellen Genen Chinas und ist in so viel Symbolik verschachtelt) und wenn die historische Erfahrung zeigt, dass es entweder dieses starke Zentrum gibt oder Chaos und Niedergang (und dies ist in der Tat eine historische Erfahrung in China), dann ist auch klar, dass Mitsprache aller wie eine gefährliche Dummheit wirkt. Noch dazu bei einem Volk aus zwei Milliarden und mit ursprünglich zig verschiedenen Sprachen. Ergänzt wird das mit Konfuzianismus, der im Wesentlichen Hierarchie und Autorität rechtfertigt und es zur Tugend erklärt, dass alle sich anstrengen, die gemeinsamen Ziele (ausgegeben von oberster Stelle) zu erreichen. Konfuzius hat zwar auch Forderungen an Mäßigung und Weisheit der Führenden gestellt, aber es hat sich nie eine Instanz oder ein Modus entwickelt, die Einhaltung zu beobachten. Das fatale ist nun, dass China vom Westen gelernt hat und in Anwendung des Gelernten – aber verbunden mit seinen verwurzelten Werten – ein totalitäres Monstrum ohne innere Kontrollinstanz wird.
Was hat China vom Westen gelernt? Dass man nicht mehr bestehen kann, wenn man sich auf sein eigenes Territorium beschränkt. Dass es sehr hilfreich ist, andere von sich abhängig zu machen und falsche Versprechungen zu machen, die man im richtigen Moment brechen kann. Und dass der Westen unter dem Vorwand von Freihandel, Demokratie und sogar den Menschenrechten keinerlei Skrupel hat, Kanonenboot-Diplomatie, Propaganda oder schlimmeres zu betreiben. Wer sich die Geschichte der Opiumkriege oder des Antikenschmuggels nochmal zu Gemüte führt, bekommt einen Eindruck davon, wie verlogen und rücksichtslos der Westen auf China wirken muss. Dass Chinas Ausweg aus dieser Epoche ausgerechnet Maos Art von Kommunismus war, macht es nicht einfacher, vermittelnde Zwischentöne zu finden.
Verbindet man diese Erfahrungen nun mit dem vorausschauenden Pragmatismus, der in China immer ein höherer Wert war, als ideologische oder philosophisch begründete Werte – von Maos Wahn mal abgesehen – dann ergibt sich eben als logische Konsequenz, dass man einen Fünfjahresplan und noch längerfristige strategische Ziele ausgibt und die Mittel zum Erreichen dieser Ziele per se angemessen sind. Pragmatismus macht auf der anderen Seite den Charme chinesischer Philosophie zu einem guten Teil aus – dass Gegensätze pragmatisch und weise verbunden werden, anstatt einen Kampf Gut gegen Böse, Richtig gegen Falsch auszurufen. Darauf komme ich noch zurück. Aktuell aber gilt weniger die Versöhnung als die Dominanz. Die Meinungen der Konkurrenten sind einzubeziehen (als strategischer Faktor), aber nicht zu berücksichtigen. Die Alternative heißt Scheitern und ist immer nah an Chaos und Auflösungserscheinungen – daher ist klar, dass auch hartes Durchgreifen gegen Abweichler zum Beispiel bei weitem das kleinere Übel sind. Und auf diplomatischem Parkett hält man sich mit Werten, auf die man andere verpflichten will, zurück. Kann aber auch nicht verstehen, dass andere sich herausnehmen, politisches Handeln mit derlei Sentimentalitäten (die vermutlich eh wieder nur Täuschungsmanöver sind) zu begründen. Ja man hat geradezu den Eindruck hinters Licht geführt zu werden, wenn ein Land seine politische Position mit derlei ideologischen Worthülsen, statt glaubwürdigen Eigeninteressen begründet. (Ist da nicht sogar was dran – vor allem, wenn man die USA kennt?)
Vergleich: Ähnlich wie die Debatte über das Fehlen der Reformation als kollektive Erfahrung für den Islam diskutiert wurde, kann man zum Vergleich der Geschichte zwischen China und Europa bzw. Nordamerika einiges sagen. So zum Beispiel, dass China die Zersplitterung Europas nie hatte und dafür eine reiche eigene Tradition an philosophischen und politischen Denkern – so dass der Bedarf „die alten Griechen“ oder katholische Dogmen zu importieren nicht bestand. Auch der europäische Ausweg aus dauerndem Krieg um Überzeugungen (oder unter Vorgabe dieser als Grund) – nämlich im Glauben ans Aushandeln einer objektiven oder zumindest geteilten Wahrheit im Sinne griechischer Philosophen – war in China nie gefragt. Um die Wirren im alten Europa zu ordnen, wurde die Teilung von Einflusssphären etabliert. In den Wirren aus Pest (hier beginnt mittelalterliche Ordnung zu bröckeln), Reformation und Glaubenskriegen sowie den Intrigen um Thronfolge und Gebietsansprüche – nicht zuletzt aber auch der neuen Machtverteilung zwischen Bürgertum und Adel – haben Europa und die jungen USA Macht eingehegt. (Spätere Ausbrüche von Totalitarismus haben diesen Weg bestätigt.) Es gab Rechte, die in Gesetzen festgeschrieben wurden: Was darf der Staat? Was darf der Staatsbürger? Was darf die Kirche? Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative usw.
Die Ausgangslage für China ist ganz anders. Hier gab es die Erfahrung von mehreren Kaiserreichen, im Wesentlichen blieb das Reich der Mitte über viele Jahrhunderte was es war. Es gab Bürgerkriege, Palastintrigen, Mongolenüberfälle und neue Dynastien begründeten neue Hauptstädte – aber Chinas Macht, Wohlstand und überlegene Zivilisation blieben über einzelne Erschütterungen hinaus bestehen. Uralte Mythen und Religionen wurden immer weiter fortgesponnen und wandelten sich ohne direkte Brüche. Die Frage war immer, ob der Kaiser einen guten Plan hatte, Beamte, die diesem Plan folgten (statt in die eigene Tasche zu wirtschaften) und ob es gelang, die Städte und Regionen vor Naturkatastrophen und Barbaren-Überfällen zu schützen. Das Reich zu splitten in Sphären, wo unterschiedliche Wächter über die Einhaltung von Regeln wachen mussten (Legislative getrennt von Exekutive, Spiritualität getrennt von Politik, Bürger getrennt vom Kaiser) musste wie purer Irrsinn erscheinen. Es war der komplette Widerspruch zur – auch in der chinesischen Mystik gesuchten – Einheit von allem (siehe oben Philosophie und Verbindung von Gegensätzen). Bis sie irgendwann den Anschluss verpassten und gierige Kolonialmächte nach China griffen. Eben jene, die sendungsbewusst von Rechtsstaat, Bürgertum und ihrer Philosophie (jetzt eher der Naturwissenschaft) sprachen. Letztlich aber vor allem gierige Barbaren waren. Dieser Perspektivwechsel ist vielleicht für westliche Beobachter einigermaßen erhellend.
Folgen: All das heißt für heute, dass es witzlos – ohne Schuldeingeständnis zur Vergangenheit und Klartext über eigene Interessen – sogar kontraproduktiv ist, auf China einzureden. Xi Jinping hat den Willen zur Macht (und die mit Nationalismus beschallte Öffentlichkeit auch – ich kann es ihnen, im Hinblick auf das skizzierte Selbstbild, nicht einmal verdenken). Und China spürt zunehmend seine Macht auf allen Gebieten – und proportional den Niedergang des Westens, den dieser weitgehend selbst verschuldet hat. Daher fürchte ich, dass die sich abzeichnende Konfrontation unausweichlich ist. Das wiederum finde ich schrecklich, ebenso wie die totale Kontrolle im Inneren des Reichs der Mitte. Hier kann man ja durchaus mit chinesischer Philosophie und Geschichte argumentieren (was vielleicht mal eine gute Idee auf diplomatischem Parkett wäre), dass eine weichere Haltung langfristig mehr Ernte bringt. Dass ein guter Herrscher einer ist, der mehr Geduld als Härte zeigt…

Deutschland.
Die Bundeswehr: Dies ist nun ein kompletter Sprung. Zu Deutschland hole ich natürlich nicht so weit aus, sondern gehe direkt in die Details. Also ich bin überzeugter Wehrdienstverweigerer und kein Freund davon, Deutschland wieder ein starkes Militär zu verpassen und Steuergeld für Rüstung auszugeben. Andererseits finde ich es trotzdem bedenklich, wenn Hubschrauber der Marine nicht über Wasser fliegen können und überhaupt kaum einsatzbereites Gerät da ist. Einige winzige Einblicke, die eine interessierte Öffentlichkeit mal bekommt, lassen einen desaströsen Zustand vermuten. Riesige Summen versickern in Rüstungsprojekten und Beratungshonoraren, aber die Ausrüstung und die Zustände werden nicht besser. Schon einige Minister*innen sind daran gescheitert oder gar Teil des Problems gewesen. Von einer Vorbereitung auf Cyberabwehr, neue Waffensysteme und Szenarien ganz zu schweigen. Vom Thema Rechtsextremismus ebenso. Da ist mein erster Impuls dann doch, eine aufgeräumte, zweckmäßige Armee zu fordern, anstatt die komplette Abschaffung derselben. Wenn ich dann als Schlussfolgerung höre „die Bundeswehr ist in schlechtem Zustand – gebt ihr endlich mehr Geld“, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Wenn ich mit einem Eimer Wasser schöpfe und irgendwie nie Wasser drin ist, wenn ich es brauche, dann suche ich doch das Loch anstatt immer wieder neu Wasser rein zu gießen.
Außenpolitik: Ich würde behaupten, deutsche Außenpolitik seit Ende des zweiten Weltkriegs hat zwei Lehren gezogen – 1. still und leise für die (Export-)Wirtschaft arbeiten und 2. an die USA binden. Manchmal steht das eine im Widerspruch zum anderen, immer dann wird hier über deutsche Außenpolitik diskutiert, aber ansonsten gibt es wenig konsensfähige Ziele. Diese Lehren aus der Geschichte sind durchaus pragmatisch, aber besonders nobel oder ambitioniert sind sie nicht.
Zwischendurch war vielleicht die deutsch-französische Freundschaft mal relevant. Die DDR bleibt hier wie immer ausgeklammert – was natürlich auch eigene Probleme schafft und Fragen aufwirft. Aber gerade auf diese beiden Aspekte beziehe ich mal den nächsten Punkt: Deutsche Führungsrolle im geeinten Europa. Sowohl bei den sowjetischen Völkerfreundschaften als auch bei der „Verbrüderung“ mit Frankreich war die Aussöhnung und das Formen einer strategisch belastbaren Einheit das Ziel. (Problematisch natürlich, dass die deutsche Teilung zwei gegnerische Lager daraus machte und die deutsche Wiedervereinigung vor allem den europäischen Osten dabei zurückließ.) Die Idee des (unter deutscher Führung) geeinten Europa zieht sich bis in die heutige EU, taugt aber inzwischen nicht mehr zur großen Vision. Dass Deutschland als zentralem, wirtschaftsstärkstem und bevölkerungsreichstem Land Europas hier eine Schlüsselrolle zufällt, war nicht nur erwartet worden, sondern wurde auch immer wieder an verschiedenen Stellen gesagt. Innenpolitisch hat Deutschland da ähnlich reagiert wie außenpolitisch: pro Wirtschaft, pro USA. Und gar nichts ernsthaft europäisches folgte. Die Unterstützung der EU-Institutionen (mit all ihren vorhandenen Fehlern) und ihre Verteidigung gegen Anfeindungen reichen leider nicht aus. Von Anfang an haben Skeptiker der EU ein Demokratiedefizit attestiert (was Brüssel zur leichten Beute von Lobbyisten und Parteiklüngel gemacht hat und bis heute massiv Glaubwürdigkeit kostet). Dieses Versäumnis geht vielleicht weiter als bisher eingeschätzt. Es würde mich nicht wundern, wenn die Geschichte darüber ein recht hartes, zumindest kopfschüttelndes, Urteil fällen würde.

Europa.
Die EU hat es ebenfalls nicht geschafft, eine gemeinsame Vision voran zu treiben, die stärker ist, als nationale Eigeninteressen. Letztere haben sich leider auf fatale Art und Weise durchgesetzt (beginnend beim deutschen Umgang mit Griechenland während der Finanzkrise, über Orbans Autokratie in Ungarn bis hin zum national-polemischen Polen). Zwischendurch dämmerte es zwar einigen Staats-/Regierungschefs mal, dass ein starkes Europa gut wäre, dass man dafür über gemeinsame Außenpolitik nachdenken sollte und dass die Nato vielleicht doch nicht mehr die richtige Form ist oder hat, die das einzige Bündnis mit globalem Einfluss, indem Europa steckt, haben sollte. Ich denke da vor allem an Frankreich (Macron: „die NATO ist hirntod“), aber Frankreich dachte da wohl vor allem an sich. An seine alten Einflusssphären und Instrumente. Aber leider gab es nie einen Konsens. Nicht mal ein „Agreement to disagree“, ja nicht mal eine handlungsfähige Gruppe, die sich zur Suche nach einer Übereinkunft verabredet hätte. Zu der Idee später nochmal. Gerade die Hinwendung der USA zum Konflikt mit China und dem pazifischen Raum zeigt deutlich, dass Europa sich um eigene Interessen künftig selbst wird kümmern müssen. Und wenn man nicht daran glaubt, dass Russland, China, die USA und einige Schwellenländer (witzigerweise könnte man GB nach dem Brexit auf diplomatischer Bühne dazu zählen) ihre Interessen verfolgen können sollten, wie sie möchten, wenn man nicht daran glaubt, dass die auch im Konfliktfall schon die richtigen Lösungen finden werden – dann sollte man sich vielleicht selbst organisieren.
Ich kann mich erst einmal dafür erwärmen, den Streit den Streithähnen zu überlassen und sich als Europa eben gerade nicht einzumischen – wenn China und die USA z.B. wirklich einen neuen kalten Krieg aufziehen wollten oder auch den einen oder anderen heißen Konflikt, Handelskrieg, was auch immer – da wäre es doch ganz gut, keiner Seite Bündnistreue geschworen zu haben oder zwischen die Fronten zu geraten. Allerdings hat das Ganze einen Haken. Was wenn die Welt als Ganzes instabiler wird und z.B. Russland das ausnutzt? Um, während einige im Pazifik beschäftigt sind, in einer „Zuckerbrot und Peitsche“-Manier (also nicht als klarer Angriff zu deklarierende Aktionen) osteuropäische Staaten abzuwerben? Oder um mit Troll-Armeen und Desinformation weiter an der Spaltung westlicher Bevölkerung zu arbeiten und damit auf Dauer demokratische Werte unmöglich zu machen? Das sind zwar irgendwie Horrorszenarien, aber ganz sicher nicht völlig aus der Luft gegriffen. Ich bin mir nicht sicher, ob die EU, wie sie aktuell aufgestellt ist, in der Lage wäre, das wirksam zu verhindern. Und da ist eine gemeinsame Außenpolitik sicher hilfreich, selbst ohne „high end“ Militärbündnis. Aber auch dieses – wie gesagt, obwohl ich skeptisch gegenüber Militär bin – könnte nützlich oder gar notwendig werden. Es ist nun mal so, dass Diplomatie und Verständigung besser funktionieren, wenn die Gesprächspartner wissen, dass man notfalls auch anders könnte. Und umso sympathischer, wenn man zu diesen Mitteln dann trotzdem nicht greift.
Hinzu kommt die Problematik Naher Osten (eigentlich sogar vom Maghreb bis Zentralasien). Hier ist seit einiger Zeit zu erkennen, dass die USA bisher nicht geeignet waren, Konflikte zu lösen und dass sie das Interesse verloren haben. Was sie dabei hinterlassen haben und was der Klimawandel noch hinzufügen wird, ist beunruhigend. Und mit den Folgen zusammenbrechender oder gerade noch von Diktatoren zusammengehaltener Staaten, wird vor allem Europa leben müssen. Flüchtende, Terrorgruppen und eine Nachbarschaft, in der keine Zusammenarbeit und wirtschaftliche Entwicklung möglich ist, sind schon jetzt die Folge und werden es bleiben. Da es auch in Afrika keine handlungsfähige politische Allianz gibt, bleibt nur Europa, um das Problem anzugehen.
Wie an China schon beschrieben, gehe ich davon aus, dass sie bereits planen, ihren Einfluss auszudehnen (rein territorial wie auch in der Tiefe). Und wenn Europa in irgendeiner Form mitreden möchte, wo da rote Linien sind und vielleicht doch noch ein Gegenmodell abgeben möchte, in dem demokratische Werte und Menschenrechte noch zählen, dann muss es selbst ernst genommen werden. Und China wird einen zerstrittenen Haufen, für den sich auch die USA nur noch marginal interessieren, nicht ernst nehmen. Na gut, die Meinung der USA zählt auch nur bedingt, nämlich sofern sie sich nicht selbst demontieren – wie schnell das möglich wäre, hat die Zeit mit Trump eindrucksvoll gezeigt. Auch die chinesische Bevölkerung – wie gesagt intensiv vom pragmatischen Macht- und Stabilitätsgedanken beeinflusst – wird das demokratische Modell als gescheitert einstufen, wenn es nicht mehr vorzuweisen hat, als schöne Worte, die im Geplänkel untereinander untergehen. Früher war das noch der Wohlstand, aber den verspricht inzwischen auch die KP durch Taten statt Worte. Mit weiterem Streit ohne klare Linie würde Europa den Beweis antreten, den die KP-Führung die ganze Zeit zu führen versucht: dass Demokratien verlogen und schwach sind und es sich nicht lohnt, diesem Modell anzuhängen – selbst wenn die persönlichen Freiheiten irgendwie nett sind. Der erwähnte Pragmatismus würde einfach beweisen (und seinen eigenen Beitrag dabei geflissentlich übersehen), dass sowas auf Dauer nicht klappt.

Die NATO.
Zur NATO stehe ich kritisch. Das ist schade, könnte sie doch genau das Gegengewicht sein, das demokratische Staaten, denen Menschenrechte – oder weil es so abgegriffen und häufig missbraucht ist, sagen wir vielleicht mal Bürgerrechte – etwas bedeuten, nutzen könnten, um nicht unter die Räder zu kommen. Mein Anspruch basiert aber auf ethischen Grundsätzen und der Glaubwürdigkeit nach außen und das hat die NATO nachhaltig zerstört. Meine Kritik: die NATO war geschaffen als Fraktion gegen den Warschauer Pakt, sie war der militärische Arm des Westblocks gegen den Ostblock. Und in dieser Funktion hat sie einiges mitgetragen, das absolut nicht mit meinen Werten konformgeht. Da wäre der Vietnamkrieg zu nennen (schon dessen offizieller Auslöser war inszeniert), die Stationierung von Nuklearraketen gegen die Absprachen mit dem Warschauer Pakt (der Auslöser der Kubakrise waren entgegen gepflegter Mythen nämlich die USA bzw. NATO und nicht Kuba, SU bzw. Warschauer Pakt) und das Versprechen bei Auflösung der SU, sich nicht nach Osten auszubreiten – was eiskalt gebrochen wurde (und vermutlich schon so einkalkuliert war, als das Versprechen gemacht wurde). Und auch danach ging es so weiter. Das ist das Schlimmste, denn nach Ende des Ost-West-Konflikts wäre es möglich und geboten gewesen, zu sagen „Schwamm drüber, lass uns neu anfangen, angepasst an eine Welt, in der jeder ein potentieller Verbündeter ist“. Es wäre möglich gewesen, die NATO in einen (selbst-)Verteidigungspakt freiwilliger Mitglieder umzuwandeln – eng gebunden an Völkerrecht und Absprachen mit den UN. Stattdessen haben die Westmächte – allen voran die USA – weiterhin Staaten ausgegrenzt und ihre Interessen vertreten – sogar gegen die Interessen einzelner NATO-Mitglieder. Und wenn sich mal wieder Diskussionen über den Zustand der NATO abzeichnen, wird mantra-artig wiederholt, dass das Bündnis zusammenhalten müsse, dass seine jetzige Form so bleiben soll, dass es nichts aufzuarbeiten gäbe und dass es quasi „natürliche Feinde“ der NATO gäbe. Einsätze, die die USA nicht wollen, weil sie ihnen nichts einbringen, werden abgelehnt (selbst wenn sie beispielsweise zur Stabilität an Europas Grenzen beitragen sollen) und Einsätze, die umstritten, evtl. völkerrechtswidrig und eher eskalierend als befriedend sind, werden durchgezogen, wenn sie im Interesse der USA sind. Dazu kommt, dass ein Dogma aufgestellt wurde (vor allem im deutschen Wahlkampf zu beobachten, dass nahezu alle Parteien ein – noch dazu völlig bedingungsloses – Bekenntnis zur NATO verlangen bzw. vor sich hertragen), dass die NATO ein unauflösbarer Teil westlich-demokratischer Staaten sei. Solche Dogmen aus einer anderen Zeit auf alle Situationen der Gegenwart und absehbaren Zukunft zu übertragen, finde ich inakzeptabel. Vor diesem Hintergrund die Verpflichtung zur erhöhten finanziellen Unterstützung durchdrücken zu wollen, unterstreicht, wie wenig kooperativ dieses „Bündnis“ inzwischen ist. Von den Fliehkräften in den Interessen der einzelnen Mitgliedsländer ganz zu schweigen. Oder gar den faulen Kompromissen, die gemacht werden, um Bündnispartner zu halten (siehe Türkei). Und dann ist da noch der Punkt, dass die NATO als Akteur (oder in der Systemtheorie gesprochen als eigenes System) ein Interesse daran hat, sich selbst am Leben zu halten – so tritt die NATO manchmal als politisches Sprachrohr ihrer Mitglieder auf und klingt dabei eher nach militärischem Säbelrasseln als nach politischer Handlungsfähigkeit. Die politischen Mittel der Konfliktlösung, welche immer vorzuziehen sind, können durch solche Drohkulisse und Inflexibilität aber leicht an den Rand gedrängt werden. Meistens wenn „die NATO“ für ihre Mitglieder spricht, überschreitet sie ihre Kompetenzen. Ich bin also nicht in jedem Fall gegen „so etwas wie“ die NATO aber ich bin ein entschiedener Kritiker dieser NATO.

Russland, die USA und der Rest.
Diese habe ich alle am Rande schon erwähnt und halte es für unnötig, hier große eigene Kapitel zu verfassen. Mein Gefühl aber ist, dass sie alle sich in den Jahren seit der Jahrtausendwende eher von natürlichen Verbündeten Europas wegentwickelt haben anstatt näher heranzurücken. Eine Sonderrolle, die das noch unterstreicht, nimmt Großbritannien ein. Und wenn es stimmt, was über die Finanzierung und den Anschub der Brexit-Kampagne aus Russland gesagt wird (ich halte es für plausibel), dann ist das gleich das nächste Ausrufezeichen.

Auflösung der Widersprüche.
Geht man nun von einem ethikbasierten Ansatz aus, um zu bestimmen, wohin die Reise gehen soll, dann ergeben sich natürlich viele Schwierigkeiten. Ich meine das so: ich möchte keine eigene Version des „America first“ für Deutschland oder Europa, ich möchte kein unhinterfragtes „der Westen gehört zusammen und wir sind immer die Guten“ (waren „wir“ historisch nicht, im Gegenteil) und ich möchte keinen chinesischen Pragmatismus a la „in einer feindlichen Welt ist alles erlaubt, was funktioniert – gemessen in Stabilität der eigenen Macht“. Auf der anderen Seite glaube ich aber auch nicht daran, dass bei der jetzigen Dynamik (verschiedene Mächte schnuppern Morgenluft, wollen sich einen besseren Platz in der Weltordnung sichern bzw. kämpfen, ihre alte Stellung nicht zu verlieren) pazifistische Zurückhaltung funktionieren wird. Einfach immer wieder sagen, dass man für Demokratie und Menschenrechte steht, dass man sich in Konflikte nicht hineinziehen lassen will und dass die anderen gefälligst das Völkerrecht achten sollen, wird nicht ausreichen, um diese Ziele zu erreichen – ja nicht einmal um deren Status Quo zu halten. Demokratie und Völkerrecht würden zerrieben und nicht nur in ihrem unfertigen Zustand verharren, sondern sogar weitgehend verdrängt. Dass dann immer wieder in den eigenen Reihen „Realisten“ aufstehen, die bereit sind für andere Prioritäten diese Werte zu opfern, macht es nicht besser. Im Gegenteil, das ist genau das Scheunentor, das Troll-Armeen zur weiteren Spaltung nutzen und was das herablassende „wir haben euch doch gesagt, es funktioniert nicht“ aus China bestärkt. Es sieht – leicht zugespitzt – so aus, als entwickle sich alles dahin, dass die europäischen Staaten sich entscheiden müssen, ob sie sang- und klanglos untergehen oder alle ihre Werte über Bord schmeißen und frei nach Macchiavelli zu erfolgreichen Verbrechern werden wollen.
Ich wünsche mir weder das eine, noch das andere, aber ich sehe es in vielem, was so diskutiert wird, durchschimmern – auch wenn die Vortragenden das naturgemäß nicht zugeben oder einsehen wollen, dass es darauf hinausliefe. Aber was wäre nun ein möglicher Ausweg? Ich stelle mir das in etwa so vor: Europa macht sich klar, dass die Entwicklung unerbittlich voranschreitet und nicht danach fragt, ob man mit den entstehenden Dilemmata einverstanden ist. Diese Drohkulisse vermag vielleicht doch noch zu Kompromissen und größeren Anstrengungen verhelfen. Und dann rauft man sich zusammen und gründet ein Forum für gemeinsame Außenpolitik. Dieses darf sich gern verfestigen und von einem regelmäßigen Treffen zu einer eigenständigen Instanz der EU werden.
Um die gemeinsame Außenpolitik zu vervollständigen, wird ein EU-Verteidigungspakt geschlossen, indem geregelt ist, welche Kommandostrukturen im Einsatzfall gelten, welche Aufgaben die nationalen Armeen übernehmen (können), welche Waffentechnik (aber auch Cyberabwehr usw.) in die eigene Strategie passt und evtl. noch geschaffen werden muss. Es wird also keine EU-eigene Armee in dem Sinne geben, sondern weiterhin die nationalen, diese haben aber ein gemeinsames Oberkommando, das sie im Einsatzfall rufen und koordinieren kann. Im Prinzip die bessere Version der NATO, die auch wirklich europäische Interessen vertreten kann.
Intern muss dann eine klare Linie gefahren werden: gemeinsame Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte sind unverhandelbar, wer nicht mitmachen will, soll nicht mitmachen. Hier ein kleiner Exkurs zu Polen und Ungarn: Beide Staaten haben bewiesen, wie dreist man mit der EU umspringen kann. Orban hat ein System aus Günstlingswirtschaft aufgebaut, das sich an EU-Subventionen bereichert und gleichzeitig mit faschistisch-populistischen Mitteln europäische Ziele und Werte demontiert. Und Polen, als größter Netto-Empfänger von EU-Subventionen, geht ebenfalls in diese Richtung (begründet auf einem erzkonservativen Katholizismus). Es ist offensichtlich, dass beide Regierungsgruppierungen gegen die EU hetzen, aber ihr Erfolg vollständig von Geld aus der EU abhängt. Wie sich der Stärkere (und moralisch überlegene) so vom Schwächeren (und moralisch absolut unwürdigen) erpressen lassen kann, ist mir vollkommen unklar. Was habe ich verpasst, was dieses skurrile Schauspiel rechtfertigt? Einige sagen ja, wenn man jetzt Konflikte mit Polen und Ungarn austrägt, riskiert man den Zusammenhalt der EU. Allerdings sind die Konflikte nicht zu übersehen, auch wenn man sie nicht austrägt und den Zusammenhalt gefährden sie ebenfalls schon jetzt – weil sich einige schrecklich ärgern, so von denen an der Nase herumgeführt zu werden und andere sich vielleicht ein Vorbild daran nehmen, mit wieviel man durchkommt.
Wenn ich „die EU“ schreibe, meine ich natürlich nicht alle Mitgliedsstaaten gleichermaßen, zentrale Kraft müssen – aus historischen, wirtschaftlichen und Mehrheitsgründen – Deutschland und Frankreich sein. Wünschen kann ich diese EU von der ich spreche natürlich allen, die freiwillig dazu gehören wollen, aber die Arbeit in diese Richtung kann ich zuerst von diesen beiden erwarten. In letzter Zeit kam es immer mal wieder zu Misstönen bei europäischen Projekten, weil sie innenpolitisch schlecht zu verkaufen sind oder eben einzelne Kämpfe um Verantwortung, Kosten und Prioritäten für innenpolitische Interessen verwendet wurden. Dieses Problem ist aber nicht gänzlich unauflösbar, denn es ist (wie ich hoffentlich hinreichend deutlich dargestellt habe) absolut im Interesse der nationalen Bevölkerungen und Unternehmen, dass es eine starke EU auf globaler Bühne gibt. Folglich wäre es Aufgabe der Politiker*innen, diese Ziele mehr hervorzuheben, anstatt trügerische Angebote zu machen, in denen man möglichst viel für „sich selber“ herausschlägt oder „von den anderen“ schultern lässt. Politiker*innen sollten nicht versuchen damit zu punkten, dass sie besonders gut für ihr Land verhandelt hätten – denn die EU abzocken, heißt letztlich, sich selber zu bestehlen. Wenn es oft genug kommuniziert würde, dass Europa diesbezüglich an einem Scheideweg steht, würden vielleicht auch einige Wähler*innen und Lobbygruppen sich für den mittelfristig lohnenden – statt den kurzfristigen – Vorteil entscheiden.
Gedankenspiel: kehren wir das „Teile und herrsche“-Prinzip mal um. Wäre es nicht nützlich, wenn sich die einzelnen Länder der EU angleichen würden, wenn wir so handelten, als säßen wir wirklich in einem Boot? Ich denke, das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung: wenn wir uns trotz Union so verhalten, als könnten wir uns gegeneinander ausspielen, dann sitzen wir eben nicht in einem Boot. Dann lässt ein EU-Staat (Deutschland) eben seine eigenen Banken daran profitieren, dass ein anderer pleitegeht. Oder ein anderer nimmt eben keine Geflüchteten auf, das können mal schön die anderen schultern. Oder einer hält sich eben nicht an Absprachen zu Klimaschutz (Polen) oder Geldwäsche- und Korruptionsbekämpfung (Deutschland) usw. usf. Wenn wir uns aber stattdessen so verhalten würden, als wollten wir wirklich EINE Europäische Union sein, dann sind wir es auch. Und ich glaube angesichts des geopolitischen Umfelds und dem, was wir für die nähere Zukunft erwarten können, werden wir Einheit brauchen. In der Not steht man zusammen. Und geopolitisch halte ich die EU tatsächlich für ein Schiff, das in einen heftigen Sturm fährt.

9/11 und der „war on terror“

Ich möchte jetzt mal was klarstellen: eure Darstellung kotzt mich an. Wer und was ist gemeint? Es geht um die Verzerrung des kollektiven Gedächtnisses, die – vielleicht sogar aus Arroganz und Unachtsamkeit, statt aus Kalkül – gerade wieder auf Hochtouren läuft. Dem Publikum westlicher Medien wird erzählt, wie “wir” uns alle gefühlt haben und was “wir” alle gedacht haben.

Vor wenigen Wochen: Der Abzug aus Afghanistan hinterlässt einen Scherbenhaufen auf vielen Ebenen und die Analysten brabbeln in immer neuen Variationen den selben Quatsch. Außer an einigen Stellen, wo ich kritische Stimmen gefunden habe, die von der Verlogenheit und Planlosigkeit gleich beim Einmarsch in Afghanistan erzählten. Erstaunlicherweise gelingt es Zeitungen und teilweise sogar Autoren im selben Artikel, wo diese Stimmen zitiert werden, völlig widersprüchliche Aussagen zu vertreten. Also einerseits, geben sie zu, dass es vielleicht weniger um einen Wandel in Afghanistan als viel mehr um Rache ging. Aber dann erzählen sie, wie der Westen sich verzettelt habe, wie seine Mission gescheitert sei, diagnostizieren im Nachhinein die genannte Verlogenheit und Planlosigkeit. So als habe sich das aus Sachzwängen und mangelndem Interesse im Lauf der Jahre ergeben. Aber wie kann ich an der Demokratisierung scheitern, wenn ich das – als planvoll anvisiertes Ziel – nie versucht habe? Ich bin ja auch nicht an der Besteigung des Mount Everest gescheitert, wenn ich noch nichtmal eine Reise ins Himalaya vorbereitet habe. Wie kann ich hinterher sagen “man sei wohl zu blauäugig und planlos” gewesen, wenn einige Kritiker (auch diese zitierten) von Anfang an gesagt haben, dass es nie um Afghanistan, das Verhältnis zum Islam, der politischen Ordnung im Nahen Osten oder sonstwas ging? Es ist einfach eine Falschdarstellung, dass dem Westen da Fehler unterlaufen seien. Auch wenn das als entwaffnende Offenheit daherkommt. Es ging den USA ursprünglich darum, Stärke zu demonstrieren, es ging darum zu zeigen, dass niemand sie ungestraft angreifen darf und dass die USA die Macht haben, sich internationale Unterstützung für eine Militäroperation am anderen Ende der Welt zu holen und dort ihre technische Überlegenheit zu demonstrieren. Mit dem perfiden Unterton Richtung Islamisten: “und alle Zivilisten, die hier sterben, gehen auf euer Konto – sowas kommt von sowas.” Später dazu mehr.

Und da nun der 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September ist, wird noch einmal erzählt, wie das alles war und was daraus folgte. Nur leider finde ich mich da nicht wieder. Und das ist nicht wegen mir persönlich schade, sondern weil es eine Scharnier-Funktion hat, für das ganze schiefe Verhältnis, das “der Westen” zur Welt hat. Denn ich habe mich nicht angegriffen gefühlt, wie so schön mantra-artig wiederholt wird: “als die Flugzeuge in die Türme krachten, wird der westlichen Welt ihre Verletzlichkeit bewusst. Der ganze Westen fühlt sich angegriffen.” So oder ähnlich wird es überall nacherzählt. Das ist eine Verzerrung und vielleicht sogar eine bewusste Lüge. Und es tut mir leid für alle jungen Menschen, die das nicht selbst erlebt haben (oder nur als Kleinkinder) und die sich jetzt ein Bild machen wollen über die Ereignisse.

Damals hatte ich das Gefühl, dass in meinen Kreisen viele Menschen (einschließlich mein Geschichtslehrer in der Oberstufe) entsetzt darauf geschaut haben, wie simpel der Hass sich aufschaukeln und jede Vernunft ersticken kann. Wie wenig “der Westen” das ist, was wir uns als Entwicklung nach Ende des kalten Krieges erhofft hatten. Zur Erinnerung: ich bin in der DDR geboren, aber in der BRD zur Schule gegangen. Gerade haben verschiedenste Beobachter – linke Intellektuelle genau wie einfache, eher unpolitische Bürger – noch die Hände vors Gesicht geschlagen, als George W. Bush denkbar knapp zum US-Präsidenten gewählt wird. Michael Moores “stupid white men” facht die Debatte über ein dysfunktionales Amerika auch in Europa an – naja, nicht als Ursache, aber als besonders deutliches Symptom der Debatte kann man das Buch gelten lassen. Es gab jede Menge “Memes”, die George W. Bush verunglimpften. Wohlgemerkt vor 9/11. Es wurde auch über Anti-Amerikanismus diskutiert, weil es natürlich die ganzen Ossis gab, die mit Sowjet-Propaganda aufgewachsen waren und Wessis, die das Gefühl der 68er verinnerlicht hatten. Dabei ist natürlich zu hinterfragen, ob das nach dem Faschismus nicht eine denkbar einfache Umdeutung ist, ein Land, die dominierende Kultur, alles was daran hängt, in Bausch und Bogen zu verteufeln – genau das selbe Feindbild eben, wie auch die Nazis pflegten. Auch wenn ein diskriminierendes Bauchgefühl kritisch zu hinterfragen ist, die Argumente, die damals wie heute auf den Tisch kommen, wenn “Amerika” kritisiert wird, wiegen schwer.

Dazu der Widerspruch des bunten Heile-Welt-Zukunfts-Gefühls der 90er mit den realen Problemen des Aufbau Ost, den Kriegen in Irak und Jugoslawien. Irgendwie gab es ja das Gefühl “jetzt wo der kalte Krieg vorbei ist, wird endlich alles gut” und “jetzt, wo die Welt geeint ist, können wir den Hunger in Afrika und die Umweltverschmutzung bekämpfen”. Und gleichzeitig war zu erkennen, dass es irgendwie doch nicht so einfach werden würde.

In dieser Gemengelage war die Kritik an den USA als Führungsmacht absolut naheliegend. Wer wenn nicht die müsste voran gehen? – Niemand, natürlich! Wir als Weltgemeinschaft, vielleicht als eine UNO mit ganz neuem Selbstbewusstsein, müssen das in die Hand nehmen. Die USA sind der falsche Anführer, so wie überhaupt das Konzept eines Anführers kritikwürdig ist. Zivilgesellschaft von unten ist wichtig. Das waren in meiner Blase damals völlig normale Positionen. Und dazu stehe ich nach wie vor.

Und jetzt zurück zu den direkten Reaktionen auf die Anschläge: mein erster Impuls als politisch interessierter Abiturient war “Ohje, ausgerechnet jetzt, wo dieser großkotzige Depp Präsident geworden ist, greifen Terroristen die USA spektakulär an, wenn der jetzt das tut, was alle ihm zutrauen, haben die Terroristen geschafft was sie wollten: sie haben Krieg. Alles wird sich radikalisieren und für Stimmen der Vernunft, für ein Streben nach gemeinsamer Zukunft (siehe Hoffnungen der 90er) ist – schon wieder! – kein Raum mehr. Der wird doch hoffentlich Berater haben, die ihn aufhalten?”

Insofern war mir klar, dass es ein perfider Plan von Al-Kaida wäre, die USA genau so zu provozieren, dass sie wie ein hirnloser, wütender Riese um sich schlagen. Und ich hatte gehofft, dass es im Rest der westlichen Welt genügend anderen (wichtigeren) Leuten auch klar ist, so dass sich diese fatale Reaktion abwenden ließe. Leider nein. Mit Kopfschütteln habe ich kurz darauf zur Kenntnis genommen, dass Luftangriffe auf Afghanistan folgten und dann der ganze Rest. Wie sollte man auch mit B52-Bombern gezielt Terroristen treffen? Und weil das wohl auch der US-Regierung auffiel, dass sie nicht einfach nach ein paar Flächenbombardements und Cruise Missiles, die irgendwelche Höhlen in den Bergen pulverisieren, wieder abziehen können, mussten sie einmarschieren, mit Bodentruppen ins Land. Und wenn sie einmarschieren, müssen sie sichere Zonen schaffen, wo sie ein Lager errichten können. Und dafür müssen sie der Bevölkerung vor Ort irgendwas versprechen. Und dann muss in den Ländern der Verbündeten (Deutschland war nach der Wiedervereinigung dummerweise gerade soweit, nicht nein sagen zu können, als ihre Bündnistreue verlangt wurde – wobei man darüber streiten kann/sollte!) verkauft werden, was das eigentlich alles ist – denn “ihr hattet Recht, der Riese schlägt hirnlos wütend um sich” konnte man ja schlecht sagen… Und so kommen wir zu der Geschichte des Afghanistan-Einsatzes, wie er wirklich war. Im Laufe der Zeit ergab sich da noch mehr, aber das war – aus meiner Perspektive nacherzählt – der verhängnisvolle Ablauf, bei dem ich mich eigentlich permanent fremdgeschämt hab. Und entsprechend vehement erklärt habe, wie doof ich das finde und zu welchen Untaten die USA immer wieder fähig sind. Denn dieser Westen wollte ich nicht sein.

Und dann kam der nächste Irak-Krieg 2003. Und da hat – zum Glück – sogar der deutsche Außenminister sich mal getraut, auf offener Weltbühne zu widersprechen. Joschka Fischer sagte zur Beweisführung der USA, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen bunkern würde “I’m not convinced.” – Für’s diplomatische Parkett eine ordentliche Klatsche! Und dann bin auch ich mit Plakat in Leipzig demonstrieren gegangen. Gerade hatte ich eine Art Manifest geschrieben, nämlich meine Gewissensbegründung zur Wehrdienstverweigerung. Und nun ging ich Zivi mit langen Haaren auf eine Demo gegen die Kriege der USA. Ein Hauch 68er. Damals war der Konsens der versammelten Menschen dort: dass “Bomben gegen Terror” ein Widerspruch in sich sind, muss ja wohl jeder zugeben, der darauf angesprochen wird – das kann man nur unterstützen, wenn man entweder strunzdumm ist oder gar nicht an Beendigung von Terror interessiert. Da sind wir wieder bei der Aussage “sowas kommt von sowas” – das lässt sich jederzeit rumdrehen. Also dass sich Streit mit “aber der hat angefangen” nicht beenden lässt, hat hoffentlich jeder im Lauf des Erwachsenwerdens gelernt.

Und so bekamen dann doch nochmal Verschwörungstheorien Aufwind. Zu 2001 schrieb ich ja, dass es mir absolut plausibel war, dass Terroristen diesen Zeitpunkt wählen, um die USA anzugreifen und die Lage eskalieren zu lassen. Insofern glaubte ich auch nicht an Verschwörungserzählungen und Geraune, dass die Türme gesprengt wurden, das Wrack im Pentagon kein Flugzeug wäre usw. Aber als mal wieder der Hang zur Lüge als Kriegsbegründung, die Verachtung abweichender Meinungen, die geölte Kriegsmaschine der USA – die ganze Dummheit, die fast schon Absicht sein musste in so hohen Regierungskreisen – zu Tage traten, schienen Zweifel berechtigt, ob nicht auch das Fingieren eines Anschlags – mit realen Opfern! – ihnen zuzutrauen wäre. Ich hatte Zweifel und ich denke, es gab tatsächlich Versagen, Nachlässigkeit aus Arroganz, Vertuschung von Fehlern usw. – Aber an ein komplettes Skript glaube ich nicht. Damals wie heute.

Dennoch möchte ich festhalten, dass mir die Art und Weise wie über 9/11 und die Folgen berichtet wird, überhaupt nicht passen. Die Kriege, die die USA im Namen des “containment” geführt haben (jenem Gerede, dass Kommunismus in einem Land zu einem Domino-Effekt in den Nachbarländern führen könne und daher präventives Eindämmen geboten wäre – sogar indem man demokratisch gewählte Sozialisten durch faschistische Autokraten ersetzt, wie in Chile – wie kann man so blöd sein zu übersehen, dass einem das nicht mehr als “Kampf für die Demokratie” abgenommen werden würde?!?) – diese Kriege waren zur Zeit des Ost-West-Konflikts falsch und die, die in ähnlicher Manier nach dem Ende des kommunistischen Blocks geführt wurden, waren es auch. Und weil diese Debatten das Handeln der USA auf der Weltbühne immer in Echtzeit begleitet haben, ist es eine Frechheit gegenüber allen Menschen, die dieses Handeln besonnen und in offener Argumentation kritisieren, jetzt einen enttäuscht-zerknirschten Rückblick zur Schau zu stellen. Wir müssen uns eben nicht verwundert die Augen reiben, wie der gutmütige Westen nur so scheitern konnte gegen all seine verworrenen Widersacher. Schon von Anfang an hat ein bemerkenswerter Teil des Westens den anderen Teil gewarnt, dass sie gerade dabei sind, solche Widersacher selbst auszubrüten.

Bei dem Titel müsste ich jetzt noch über die Einschränkungen der Grundrechte „zur Terrorbekämpfung“, über Guantanamo, Abu Ghraib, Chelsea Manning usw. schreiben, überspringe das aber mal mit dieser kurzen Andeutung. Es ist zumindest viel passiert, was weltweit, aber vor Allem im Westen, Kontroversen ausgelöst hat. Und so wie damals 9/11 nicht im luftleeren Raum geschehen ist und sich als Kurzgeschichte auf leere Seiten schreiben lässt, so findet auch diese Auseinandersetzung nicht ohne Kontext statt. Aktuell sehe ich Themen wie die aufstrebende neue Rechte und die aufziehende Klimakatastrophe und mir schläft das Gesicht ein und ich muss schlucken: ist es das gleiche Muster? Hier gibt es seit Jahren Menschen, die besonnen und in offener Argumentation – in Echtzeit – Vorschläge machen und Fehler kritisieren. Ein Teil des Westens warnt den anderen Teil vor Dummheit, Arroganz und übertriebender Abgebrühtheit. Werden wir auch da, wenn es endgültig verkackt ist – in der Rückschau – zu hören bekommen, wie “wir” als Westen da reingeschlittert sind, mit den besten Absichten, aber vielleicht irgendwie blauäugig – echt jetzt?!?

Dieses Gefühl des ewigen “face palm” werde ich wohl nicht los. Ganz unzweifelhaft als Teil des Westens. Aber als der, der sich fremdschämt.