alte (verkrustete?) Demokratie

Die repräsentative Demokratie, wie wir sie bisher kennen, hat natürlich historische Gründe und ich möchte eines klar sagen: ich bin dankbar für die Möglichkeiten, die sie uns bietet. Ich bin all den Vorkämpfer*innen dankbar, die sich auch unter Gefahr für Leib und Leben dafür eingesetzt haben!

Allerdings hat dieses System auch Nachteile, die durch Gewöhnung aller Beteiligten nicht besser werden (Forderungshaltung der Bürger*innen, die ansonsten aber wenig Lust auf anstrengende Aushandlungsprozesse haben, Suche nach Lücken seitens Lobbyist*innen etc.). Außerdem ist Verhalten stark von Kultur geprägt. Unser allgemeines Rollenverständnis spiegelt sich in der Politik natürlich wider.

Eine Rolle, die wir sehr häufig haben, ist die der Konsument*innen. Wenn ich es mal auf die Spitze treibe: wir werden zu Konsument*innen erzogen und verlernen großteils etwas anderes zu sein.

Nicht in dem Sinne, dass Eltern sagen „du sollst nur eine Kaufentscheidung treffen…“, aber im Sinne, dass wir überall Vorbilder dieser Art präsentiert bekommen und durch unsere anonyme Massengesellschaft viele Räume entstehen, in denen wir automatisch diese Rolle einnehmen, weil für den vollständigen Umfang einer sozialen Interaktion Zeit, gegenseitige Kenntnis usw. fehlen. Ich gebe zu: manchmal ist auch mir das sehr recht, ich gehe gern mal einkaufen, ohne ergebnisoffen sozial interagieren zu müssen, aber denken wir weiter…

Weiter zu meiner leichten Übertreibung: Die heutige Demokratie ist reiner Consumerism! Wir machen nicht mit, sondern wählen nur aus dem aus, was uns vorgesetzt wird.

Als anständige*r Konsument*in erwarten wir dann natürlich, dass auch anständig geliefert wird. Was interessiert es uns, wie es hergestellt und verschickt wird?
Und auch die Parteien und einzelnen Politiker*innen, die uns etwas anbieten, haben sich vollständig darauf eingestellt: emotional manipulierende aber vage Werbeversprechen und möglichst glatte Oberfläche… Ist doch okay, einen Job zu machen, für den mensch bezahlt wird. Solange die Kunden kaufen, ist das Produkt austauschbar, oder?
Btw: Kennt ihr den „Tütensuppen-Totalitarismus“ von Marc-Uwe Kling?

Durch die reine (Selbst-)Beschränkung auf das Wählen aus gegebenen Angeboten, entsteht eine Entfremdung wie bei Marx vom Arbeiter und seinem Produkt. Also wir können uns aufgrund viel zu geringem Gestaltungsspielraums einfach nicht mehr mit dem Ergebnis identifizieren und das Gefühl von Stolz auf Erreichtes und schlichtweg des Sinns dessen, was wir da tun, geht verloren. Wir als reine Konsumenten von Politik entfremden uns daher also immer weiter von den politischen Themen und Verfahren.

Deshalb brauchen wir andere Verfahren mit echter Beteiligung und weniger Hierarchie. Hier einige Ideen und Vorschläge dazu.

Durch Wettbewerb als Methode in der repräsentativen Parteien-Demokratie entsteht (oder wird weiter gepflegt, obwohl sie aus anderen Bereichen kommt) eine Konkurrenzmentalität, die destruktiver als eine Konsensidee ist: Mensch nimmt sich gegenseitig die Stimmen weg, mensch versucht eigene Anträge und Gesetzesvorschläge durch zu bekommen – gönnt sie aber nicht „den politischen Gegner*innen“, mensch besetzt Themen für sich usw. – Statt gemeinsame Positionen und Bündnisse zu suchen, suchen Politiker*innen nach Wettbewerbsvorteilen. Das ist aber kein (zumindest nicht nur) menschliches Versagen, keine böse Eigenart der Beteiligten, sondern ein Konstruktionsfehler des politischen Systems. Wenn Macht nötig ist, um entscheiden zu dürfen und Macht daher kommt, dass mensch sich gegen andere behauptet, ist ja logisch, dass nur zwei Arten Politiker*innen übrig bleiben: die erfolglosen, die nie großen Einfluss haben und die, die im Machtspiel besonders gut sind. Also nicht unbedingt die, die wir eigentlich als Staatsbürger*innen brauchen: die besonders gute Entscheidungen für alle treffen. Auf die Güte von Entscheidungen haben wir nämlich nur sehr bedingten Einfluss, wenn zuerst der Erfolg im Machtspiel nötig ist, um entscheiden zu dürfen, wir dann nur bedingt sehen, wie etwas entschieden wurde und uns für das nächste Mal darauf verlassen müssen, was uns versprochen wird.

Ein weiteres wichtiges Kriterium im Auswahlverfahren für das Ausüben von Macht ist die Fehlertoleranz. Wenn Politiker*innen stets vorgeworfen wird, was sie versprochen, aber nicht eingehalten haben.

Anstatt, dass sie daran gemessen werden, was sie getan haben, um es zu erreichen, ob sie berechtigte oder faule Kompromisse eingegangen sind, ob es noch möglich ist, es im nächsten Versuch zu schaffen…

Dann brauchen wir uns natürlich auch nicht zu wundern, wenn die Politiker*innen, die schon länger im Geschäft sind und durch die Hierarchien ihrer Partei (sog. Ochsentour) an wichtige / verantwortungsvolle Positionen gekommen sind, besonders gut darin sind, nichts konkretes anzukündigen. Wenn sie um den heißen Brei herumreden müssen, damit sie hinterher nicht sofort an Aussagen, die sie mal gemacht haben, gemessen – und schnell aussortiert – werden, dann tun sie das natürlich: sie reden um den heißen Brei herum oder werden aussortiert. Das sind die Spielregeln, ist doch völlig klar, wer da auf Dauer gewinnt, oder nicht?

Noch ein Grund, warum Politiker*innen sich gern unklar ausdrücken: in kurzen Statements, wie sie über Medien verbreitet werden, kann mensch schlecht Kritiker*innen überzeugen. Da aber jede Stimme zählt (Konkurrenzprinzip), ist es erfolgversprechender, alle irgendwie anzusprechen. Also lieber irgendwas wohlfeiles dahergesagt, als durch ein Missverständnis oder eine Idee, deren Zeit noch nicht reif war, jemanden vergrault.
Ein weiterer Grund ist natürlich auch, dass Parteien in dem beschriebenen System immer eigene Positionen brauchen, sich die Beteiligten selbst als Konkurrent*innen empfinden und daher etwas anderes durchsetzen wollen, als die anderen. Demnach braucht es Verhandlungspotenzial für sog. Kuhhandel und Kompromisse, wo sie sich aufeinander zu bewegen. Würden Politiker*innen bereits vorher zuviele klare „ich möchte xy und das kann ich über z erreichen“-Aussagen machen, hätten sie weniger Spielraum, für diese Deals einer Umsetzung. Wie ein gemeinsames Ergebnis verkauft werden soll, entscheidet mensch besser hinterher.

Nochmal: all das sind Folgen der geltenden Spielregeln und kein individuelles Versagen, weil „die Politiker*innen“ alle blöd und / oder böse wären. Ein weiterer Baustein dieser Reihe ist die Symbolpolitik.