neue, frische Demokratie

Wie ihr als Leser vielleicht bereits empfindet oder in den Problembeschreibungen gesehen habt: wir brauchen frischen Wind in der Demokratie! Im Demokratieverständnis und auch in den konkreten Methoden. Bei genauerem Nachdenken und Anregungen von unterschiedlicher Seite, war ich überrascht, wie viele Optionen es da gibt.

…und wie man als Politikwissenschafts-Student mit einem Brett vorm Kopf herumlaufen und nur winzige Ausschnitte der möglichen Welt sehen kann. Während meines Studiums war ich sehr angestrengt damit beschäftigt, die Beschreibungen des Ist-Zustandes zu verstehen und zu überprüfen, die andere Wissenschaftler angefertigt haben. Analysen des Möglichen oder konkrete Fehlersuche im Bestehenden gab es nur in engen Rahmen – wieder eingeschränkt durch andere Bereiche des (erst einmal so hinzunehmenden) Ist-Zustands. Kein weißes Blatt, vor dem mensch kreativ werden kann, keine Befähigung „out of the box“ zu denken…

Demokratie ist dieses Ding mit dem Abstimmen, richtig? Am besten natürlich als direkte Demokratie, alle Betroffenen kommen zusammen und dann wird die Hand gehoben, wo ich dafür bin. Soweit so gut. Aber da hat die Geschichte ja nun einige andere Wege beschritten (aus vielen spannenden Gründen, die ich hier gar nicht alle beleuchten kann).

Bleiben wir doch nochmal kurz bei der Abstimmung: warum müssen eigentlich Fürstimmen für fertige Vorschläge gesammelt werden?

Sofern es also um Entscheidungen geht, die von einem relativ kleinen Kreis von Menschen getroffen werden können, ist es möglich, mit direkten Vorschlägen zu arbeiten:

Subsidiaritätsprinzip: Heißt, dass Entscheidungen auf so niedriger Ebene beschlossen werden sollen, wie möglich. Also beispielsweise kann der Bau einer Schule in Stadt oder Gemeinde beschlossen werden, die Einführung einer landesweiten Steuer aber erst auf Landesebene.

Wir sammeln auf einer Tafel oder digital oder wie auch immer die vorhandenen Vorschläge und ändern sie während der Abstimmung noch ab. Ich muss also nicht auf Gedeih und Verderb einer Idee zustimmen oder sie ablehnen, sondern ich kann sagen „ja, wäre ich dabei, aber nur wenn…“ Das funktioniert natürlich nur in begrenztem Rahmen und nur, wenn alle Beteiligten bereits vorher Zeit zur Vorbereitung hatten. Gut wäre da auch, wenn ein erstes Set an Vorschlägen bereits zur Vorbereitungszeit vorläge.

In so einem Rahmen ist es meiner Meinung nach sinnvoll, konkret von der Entscheidung Betroffene und Experten einzuladen. Wenn zum Beispiel neue Abwasserkanäle gebaut werden müssen, könnte ein Tiefbauingenieur, eine Wasserwirtschaftlerin, einige zufällig ausgewählte Anwohner*innen und die Chefin der Abwasser-Aufbereitung der Gemeinde eingeladen werden. Für solche Entscheidungen sind diese Personen besser geeignet, als Parteipolitiker*innen.

Um immer wieder neue Perspektiven einzubeziehen, Realitätsverlust der Amtspersonen und einen Lobby-Filz zu verhindern, ist es überhaupt sinnvoll, für verschiedene Ämter wieder das Los entscheiden zu lassen. So, wie es im antiken Athen schon war. Das würde zum Beispiel die Verflechtungen weitgehend verhindern, die es heute gibt: Konzerne sponsern Parteiwahlkampf und knüpfen Kontakte zu Politikern, die sich auf ein Ressort spezialisieren, dann werden diese später vielleicht noch Aufsichtsrat des Konzerns… (Stichwort „Drehtür-Effekt“) Wenn jede*r plötzlich berufen werden kann, wie Schöffen zum Gericht, dann ist dieses Anbandeln mit „den Richtigen“ nahezu unmöglich.

Außerdem natürlich kann eine Gruppe dazu übergehen, Widerstände zu testen und einen Konsens zu suchen, anstatt Unterstützung zu testen und konkurrierende Vorschläge ins Rennen zu schicken. Ich bin da gar kein Experte, aber hier hat Christian Felber (bekannt von der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung) das am Beispiel Einkommens-Ungleichheit gemacht. Da wird auch der Begriff genannt: Systemisches Konsensieren. Es gibt darüber viele spannende Aussagen und Experimente, klickt euch doch mal durchs Netz 😉

An solchen Beispielen könnt ihr sehen, dass es viele unterschiedliche Möglichkeiten gibt, zu demokratischen Entscheidungen zu kommen. Grundlegend greift der Apell an eine demokratische Öffentlichkeit, wie er häufig bei politischen Sonntagsreden geäußert wird, zu kurz – sofern es keine realen Möglichkeiten gibt, sich als Bürger*in mal wirklich demokratisch auszuprobieren. Ich plädiere also für zwei Dinge: eine Methodenvielfalt bei demokratischen Entscheidungsprozessen aktiv zu fördern und möglichst viel Raum zu geben, diese zu erproben (was bedeutet, einige Entscheidungen auf möglichst niedrige Ebene zurückzugeben und von Betroffenen selbst finden zu lassen). Denn woher soll ein demokratisches Bewusstsein kommen, wenn ich nur Konsument*in von Politik, aber nicht handelnde*r Akteur*in bin? Bewusstsein bildet sich aus Erfahrung und die mache ich besser durch Handeln als durch mittelbares Beobachten.

Ich habe in TV-Beiträgen Beispiele gesehen, wo Kommunen damit experimentieren. Es ist also nicht nur machbar, es wird sogar zaghaft gemacht. Kommunen und Kieze können Projekte zur Bürger*innen-beteiligung vorbereiten und moderieren, dann ist es möglich, echte Erfahrungen mit der Demokratie zu machen. Einfach einen Rundbrief schreiben und den bereits (eher zur Unselbstständigkeit) sozialisierten zuzurufen „Macht mal“ wird natürlich nicht funktionieren. Solche Argumente höre ich ja ab und zu – „Na die Menschen wollen doch gar nicht, wenn du die alle in einen Raum setzt, streiten die doch nur und dann setzen sich die lautesten durch.“ – richtig, so etwas kann passieren, wenn die Bürger*innen weder Losverfahren noch Konsens ernst nehmen, sie eher negative Erfahrungen mit der repräsentativen Demokratie gemacht haben und ihnen die Kreativität bei „ernsten Themen“ erfolgreich abtrainiert wurde. Dieser Zustand ist allerdings menschengemacht und kann ebenso von Menschen geändert werden.

Beispiel Filderstadt bei Stuttgart in einer interessanten, aber aufgrund des deprimierenden Starts und der kontroversen Thesen auch anstrengenden, Doku (ab Minute 34:20)

Außerdem möchte ich auf Partizipation in Kitas und Schulen hinweisen, hier gibt es gute Beispiele, wie Erziehung zu verantwortungsbewussten, prosozialen Menschen gelingt. Überzeugender Hintergrund dazu kommt von Gerald Hüther, Armin Krenz und Jesper Juul. Persönlichkeitsbildung, die möglichst früh startet und psychologische Erkenntnisse zu Gruppenprozessen ernst nimmt, kann sehr wohl den entscheidenden Unterschied machen, dass Menschen einer Gemeinschaft eine gelingende Demokratie gestalten.